Ein Baum stirbt

Sophie Lange
Zu meinen Frühlingsritualen gehört es, einen bestimmten Baum an einem Bach zu besuchen. Es ist schon mehr als zehn Jahre her, als dieser uralte Geselle mir zum ersten Mal auffiel. Ich glaube, es ist eine Weide. Aber so genau, weiß ich das gar nicht. Für mich ist es einfach ein Baum, der Baum, mein Baum.

Unsere erste Begegnung fand an einem trostlosen Wintertag statt. „Der ist hin!“ sagte ich mir. Sein knorriger Stamm war zerklüftet und auseinander gerissen, die Äste knarrten durstig und ausgehungert im leichten Wind, die dürren Zweige zeigten wie spitze Hexenfinger nackt und bloß in das Nichts eines verhangenen Himmels. Einige welke Blätter versuchten verzweifelt am saft- und kraftlosen Baum Halt zu finden. Ich wollte schnell vorbei an diesen morschen Alten, doch irgendetwas sprach mich an. „Ich sterbe!“ wisperte der Baum und der Klang tönte aus dem Stamm, den Ästen, Zweigen und Blättern. Ich wollte das nicht hören und flüchtete in meine Flapsigkeit. „C’est la vie!“ sagte ich lässig und ging schnellen Schrittes weiter.

Doch der Baum ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Ich hörte ihn stöhnen und jammern: Ich sterbe, ich sterbe. Eine Begebenheit aus meiner Jugendzeit kroch in mein Bewusstsein. Ich besuchte regelmäßig eine ältere Frau, die in meinem Leben die Stelle einer guten Fee eingenommen hatte. Doch als ich wegzog, wurden meine Besuche seltener. Als ich nach einiger Zeit wieder einmal bei ihr vorsprach, sagte sie still: „Ich sterbe!“ Ich war sehr erschrocken und blickte sie entsetzt an. Meine gute Fee durfte nicht sterben. In diesem Moment rief die kleine Enkelin, die auf dem Boden spielte: „Maamaa! Oma stirbt schon wieder.“ Die junge Mutter sagte lachend: „Oma stirbt schon seit Jahren“, und ihr Blick beruhigte mich, die Worte nicht so ernst zu nehmen. Die alte Frau hat noch einige Jahre gelebt. Dann starb sie - und ich musste ohne gute Fee weiterleben.

Ich ging jetzt regelmäßig zu meinem Baum und schenkte ihm viele gute Worte. „Du schaffst es“, raunte ich ihm zu und streichelte zärtlich seine todkranke Rinde. Und dann geschah das Wunder. Nach den ersten Tagen des nächsten Frühlings trieben die Zweige kleine Blätter aus. Ich wäre am liebsten vor Glückseligkeit um den Baum herumgetanzt, wäre das Gelände nicht so unwegsam gewesen. Ersatzweise flüsterte ich ihm ein kleines Gedicht ins Ohr:

Die linden Lüfte sind erwacht,
sie säuseln und weben Tag und Nacht,
sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Nun armes Herze sei nicht bang!
Nun muss sich alles, alles wenden.
(Ludwig Uhland)

Diese Verse machten meinem Baum Mut. Die grünen Blätter zitterten vor Lebensfreude und summten ein frohes Frühlingslied, melodisch von dem Rauschen des Baches begleitet. Doch dazwischen brummelte es – kaum hörbar – immer wieder: Ich sterbe.

Jahr für Jahr wiederholte sich nun die Geschichte von Sterben und neuem Leben meines Baumes. Ich verstand jetzt meine gute Fee viel besser. Man stirbt - meist - nicht von einem Augenblick zum anderen, man stirbt Stück für Stück, langsam, unaufhaltsam. Ich glaube, zuerst stirbt die Hoffnung – obwohl man sagt: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Dann bekommt der Lebenswille immer mehr Risse und Schunden. Die Kraft flieht – wohin auch immer, der Sturm des Lebens rüttelt an morsche Zweige. Immer mehr bricht zusammen, verfällt, stirbt ab.

Mein Baum stützt sich inzwischen mit mehreren knorrigen Ästen auf der Erde ab. So kann er sein Gleichgewicht halten, denn sein Stamm allein kann ihm keine Sicherheit mehr geben. Es sieht so aus, als ob er auf allen Vieren herumkriechen will. Ich bewundere ihn, weil er sich so wacker hält und nicht aufgibt, und das sage ich ihm jedes Mal. Er sieht zwar alt und verfallen aus, aber trotzdem wirkt er mächtig und würdevoll. Was um ihn herum geschieht, scheint ihn kaum noch zu interessieren. Er wird immer stiller und stiller, friedvoller, in sich selbst ruhend. Doch wenn ich ihn besuche, freut er sich, sein Herz schlägt schneller und wir erzählen uns aus alten Tagen.

In diesem Jahr treiben die Zweige besonders viele Blätter. An allen Seiten und Ecken sprießt es, üppig, kraftvoll, grün wie die Hoffnung. Besonders die oberen Zweige haben Blätter in Hülle und Fülle geboren. Sie bilden ein schützendes Dach für meinen alten, kranken Baum. Und wenn es aus dem Stamm raunt „Ich sterbe, ich sterbe!“, dann flüstert es im grünen Himmelszelt: „Wir leben, wir leben!“

Von 1974 bis 2014 schrieb Sophie Lange zahlreiche Zeitungsartikel für die Kölnische Rundschau. Am 20.11.1984 schrieb sie bereits über die Matronenverehrung in Nettersheim. Damals schrieb die Rundschau noch von einer "geheimnisumitterten Kultstätte":

Vor den drei Matronen-Gottheiten liegen auch heute noch oft Blumen

Der Matronenkult reicht bis in die Zeiten der Kelten und Germanen zurück. Die Römer übernahmen die Verehrung dieser Dreier-Mütter und setzten ihnen Votivsteine zum Dank für erflehte Hilfe. Die Inschriften verraten uns, dass in diesem Tempelbezirk die aufanischen Matronen verehrt wurden. Die Zeit der römischen Verehrung dürfte im 2. bis 4. Jahrhundert liegen.
Die drei Figuren sollen ursprünglich Sonne, Mond und Erde darstellen. Bildlich spricht für diese These, dass die beiden äußeren Matronen turbanartige Hauben tragen, während die mittlere Figur kleiner ist und keinen Turban-Kranz trägt (Mutter Erde).
Als unser Land christianisiert wurde, wurde die Verehrung dieser heidnischen Göttinnen untersagt, aber das Volk gab die Verehrung dieser gütigen Weisen nicht so schnell preis, und so wurden sie schließlich als "drei Matronen", die "drei Ewigen" oder "Fides, Spes, Caritas" (Glaube, Hoffnung, Liebe) in die christliche Lehre einbezogen.
Viele Heidentempel waren von den christlichen Missionaren zerstört worden; oft wurden christliche Kirchen auf den Grundmauern erbaut. Der Tempelbezirk Nettersheim wurde jedoch - aus welchen Gründen auch immer - nicht zerstört, sondern verfiel im Laufe der Jahrhunderte. So ist diese Kultstätte relativ gut erhalten.
Den besonderen Reiz erhält die "Görresburg" jedoch durch die naturschöne Umgebung der frühen Pilgerstätte. Auf einer Anhöhe gelegen hat man von den Tempelmauern einen weiten Blick auf karge Wiesen, zerklüftete Täler und ferne Höhen. Der "Hohlweg", der vom Schleifbachtal zu der Tempelanlage führt, verstärkt noch die Vorstellung, dass hier die Gläubigen zu den gütigen Matronen wallfahrten. Eine Quelle im Wiesenbereich erzählt von dem einst heilgen Raum.
Die Weihesteine mit den Sinnbildern finden viele Bewunderer. Man kann von einer Verehrung dieser Frauengestalten sprechen. Es ist durchaus keine Seltenheit, dass Blumen vor den Weihesteinen niedergelegt werden. Da der Tempel genau geostet ist, zieht die Sonne über den Tempelbezirk ihre Bahn, und gerade der Sonnenuntergang zieht Natur- und Meditationsfreunde an. Auch die "standortfremd" stehenden Abgüsse der Matronen-weihesteine in der Nähe der Eifelhöhenklinik in Marmagen werden viel beachtet. Eine kleine Blume in dem Fruchtkorb einer Muttergestalt erzählt auch hier von einer Verbindung des heutigen Menschen zu dem Sinnbild vergangener Zeiten.

Wanderung in der Stille

Ahekapelle bei Engelgau (Foto: Jonas Setzer)

Hinter mir lasse ich
tosende Motoren
lärmende Menschen
hektische Umwelt

Es begleiten mich
fernes Glockengeläut
rauschende Blätter
fließender Atem

Es empfangen mich
laut-lose Stille
totes Schweigen
aufbrechende Knospe.

Sophie Lange
In: Zwischen Venn und Schneifel, März 1997