Mein Elternhaus

Erzählung von Sophie Lange

„Dieses Jahr ist ein ganz besonderes Jahr“, sagte ich am Neujahrsmorgen. Der erste Tag des neuen Jahres hatte wie jeder Sonntagmorgen begonnen. Meine Mutter hatte zeitig in der Küche gewirtschaftet, war dann in die Frühmesse gegangen und hatte anschließend uns Kinder aus dem Bett geholt. Mein Vater war wie alltäglich in aller Frühe in den Stallungen gewesen. Nun saßen wir alle am Frühstückstisch – und niemand nahm von meinen Worten Notiz. So wiederholte ich laut: „Dieses Jahr ist ein besonderes Jahr!“ Nun reagierte mein kleiner Bruder. „Wieso denn?“ fragte er kauend. „Man sprich nicht mit vollem Munde“, wies meine Mutter ihn zurecht.
Ich schaute in die Runde. Nur mein Vater schaute mich fragend an, und so erklärte ich ihm: „In diesem Jahr wird unser Haus 200 Jahre alt.“ „Wie kommst du denn darauf?“ fragte er erstaunt. Nun fühlte ich mich beachtet und berichtete stolz: „Über unserem Torbogen stehen die Zahlen 1-7-4-4. Damals ist das Gehöft erbaut worden und jetzt wird es 200 Jahre alt.“

200 Jahre! Das war eine Ewigkeit, wenn man selbst erst acht Jahre zählte. „Das hat Tante Finchen mir erzählt“, ergänzte ich schnell. Meine Mutter seufzte. „Ich befürchte“, sagte sie zu meinem Vater gewandt, „dass unsere Tochter genauso sonderlich wird wie deine Schwester.“ Ich hatte mir vorgestellt, dass es in diesem Jahr ein großes Fest zu Ehren unseres Elternhauses geben würde. In diesem Augenblick entschwand die Erfüllung dieses Wunschtraums in nebelhafte Ferne.

Nach dem Frühstück gingen wir zum Hochamt. Als wir nach Hause kamen, nahm mein Vater mich vor dem Hoftor an die Hand, und gemeinsam betrachteten wir die in Stein geschlagene Jahreszahl 1744. Es folgte die schönste Stunde des Sonntags. Wir Kinder durften im „guten Zimmer“ unsere ersten Versuche auf dem Klavier oder auf der Flöte zeigen, und mein Vater sang. An diesem Neujahrsmorgen sang er vom Vaterhaus mit der Linde und vom Elternhaus beim Mühlenrad.

In den nächsten Wochen sammelte ich Informationen über unser Haus. Mein Vater zeigte mir die Gebäude, die schon 200 Jahre alt war, berichtet über die Änderungen, die seine Eltern vorgenommen hatten und erklärte mir, was er selbst noch verbessern wollte. Auskünfte anderer Art erhielt ich von Tante Finchen. „In diesen 200 Jahren sind sehr viele Menschen in diesem Haus gestorben“, erzählte sie, „meine Eltern, sechs Geschwister von mir, meine Großmutter, und wer weiß, wer sonst noch. Wenn du gut aufpasst, kannst du nachts den Geist der Toten wahrnehmen. In der Finsternis sind die Toten stärker als die Lebenden.“

Zunächst merkte ich nichts vom nächtlichen Spuken, doch während einer Fieberkrankheit spürte ich in einer unheimlichen Nacht geheimnisvolle Stimmen, huschende Schatten, einen eisigen Atemhauch – die Geister der Toten. Zitternd lief ich in das Schlafzimmer meiner Eltern und berichtete schluchzend, was mich aufgewühlt hatte. Meine Mutter nahm mich zu sich ins Bett, und mein Vater beruhigte mich. „In diesem Haus sind viele Menschen gestorben“, sagte er, „aber es sind auch viele darin geboren, so wie ich und alle meine Geschwister.“

„Bin ich auch hier geboren?“ fragte ich. „Nein“, antwortete meine Mutter. „Deine Geschwister wohl. Du aber bist im Krankenhaus in der Stadt geboren.“ In dieser Nacht machte ich mir keine Gedanken mehr, aber in den nächsten Wochen belastete es mich sehr, dass ich nicht in meinem Vaterhaus geboren war. Ich liebte dieses Haus über alles und wollte ganz mit ihm verbunden sein. Oft, wenn alle draußen waren, lief ich ins Haus hinein, setzte mich still irgendwo hin und lauschte, was die Räume mir aus alten Tagen zuraunten. Es waren gute Geister, die sich in allen Ecken eingenistet hatten.

Dann geschah so viel in diesem Jahr 1944, dass auch für mich das Haus in den Hintergrund trat. Bald bestimmte nur noch der Krieg unser Leben. Als wir unmittelbar in die Kampfwirren gerieten, verließen wir den Wohntrakt, um in den Kellerräumen unter den Stallungen zu vegetieren. Schreie von Verwundeten und das Stöhnen von Sterbenden drangen zu uns. Nach einer Unendlichkeit hörten die Kämpfe auf; wir waren in den Händen der Besatzungsmacht und genauso voller Ängste wie zuvor. In dieser turbulenten Zeit wurde ich krank. Ich wurde von meiner Familie getrennt und nach irgendwo in ein Lazarett gebracht. Nach schlimmen Wochen gesundete ich und geriet in ein Auffanglager. Dass ich hier überlebte, verdanke ich nur der Tatsache, dass ich ein Kind war, allein, verlassen, zerlumpt, hungrig, das überall Mitglied erregte.

Nach mehr als einem halben Jahr fand ich aus einer Welt von Not und Elend wieder nach Hause. Nach Hause! Ich wusste kaum noch, was das bedeutete. Die Zeit voller Kriegsschrecken schien mir wie eine Ewigkeit im Vergleich zu den Jahren meiner Kindheit. Die Zeitspanne, die ich in meiner Familie aufgewachsen war, war schemenhaft verzerrt, fast ausgelöscht. Und mein schönes Vaterhaus! Es stand noch, aber es war zerschunden und voller Wunden, die nicht einmal bluten konnten. Nicht nur meine Familie, auch das Haus war mir fremd geworden.

Meine Eltern, die kaum noch Hoffnung gehabt hatten, mich jemals wiederzusehen, umgaben mich mit aller Liebe und Fürsorge. Aber ich konnte die schrecklichen Geschehnisse nicht verkraften. Ich wurde krank an Leib und Seele. Ich wollte und konnte nichts essen, wurde mühsam gefüttert, behielt aber kaum etwas bei mir. Bald war ich zu schwach aufzustehen, ich schlief und schlief und wollte sterben in dem Haus, in dem schon so viele gestorben waren. In meinen wirren Träumen durchlitt ich den Untergang einer ganzen Welt. Oft wurde ich von meinen Schreien wach, kämpfte wild um mich schlagend mit einer Macht des Bösen und sank wieder in die Tiefen eines Schlafs, jenseits von Raum und Zeit. Nie, wenn ich die Augen öffnete, war ich allein. Entweder erblickte ich das verweinte Gesicht meiner Mutter, die ernsten Augen meines Vaters, die gefalteten Hände meiner Tante Finchen oder die gerunzelte Stirn unseres Hausarztes.

So vergingen Wochen. Eines Tages focht ich wieder eine erbitterte Traumschlacht mit Schatten und bösen Geistern aus der Finsternis. Es war ein Kampf auf Leben und Tod. Doch allmählich wurden die Dämonen schwächer, sie verblassten, sanken in sich zusammen und lösten sich langsam in Nichts auf. Eine Kraft, die stärker war als ich, hatte sie bezwungen. Die tiefe Dunkelheit, die mich umfing, versank in den Erdboden. Es wurde heller in meiner Traumwelt, bis alles um mich herum von einer lichten Helligkeit durchflutet war.

Ich öffnete die Augen – die Helligkeit blieb. Die ernsten Augen meines Vaters blickten mich an, und ich spürte meine Hände in seinen starken Händen eingeschlossen. Und mit einem Mal vernahm ich, wie das Haus mir etwas zuraunte. Ich richtete mich auf und schaute mich erstaunt um. Alles war mir wieder vertraut, das altmodische Bett, das Kreuz und das Bild mit den Engeln. Hier bist du zu Hause, hier gehörst du hin, sagten mir alle Gegenstände. Durch das Fenster fiel Sonnenschein, und von draußen drangen die Geräusche des Hofes in das Zimmer. Ich war zu Hause in meinem Elternhaus.

„Schade, dass ich nicht hier geboren bin!“ sagte ich, aber meine Worte klangen fast heiter. „Aber du bist doch hier geboren“, sagte mein Vater, und seine Stimme zitterte eigenartig. „Du bist in Deinem Elternhaus geboren, heute, jetzt.“ Ich nickte nachdenklich. Ja, mein Vater hatte recht, ich fühlte mich wie neugeboren, geboren in dem Haus meiner Ahnen. Nun war ich eins mit ihm und ihnen.

„Wir müssen noch den 200. Geburtstag unseres Hauses feiern“, erinnerte ich mich, und der Neujahrsmorgen des Jahres 1944 stand deutlich vor mir. Ich hatte zurück zu meiner Kindheit gefunden. Aus den Kriegstrümmern war eine Brücke entstanden, die zu dem Jetzt und Heute führte. Ich hatte diese Brücke beschritten und reckte und streckte mich dem Leben entgegen.

Mein Vater hatte mich aufmerksam beobachtet, nun eilte er zum Fenster und rief in den Hof, dass alle zu mir kommen sollten. Bald standen sie an meinem Bett: meine Mutter, Tante Finchen, meine Geschwister, einige Spielgefährten. Sie starrten mich an, als sei ich von den Toten auferstanden. Ich lächelte und schmiegte mich an meinen Vater. „Heute feiern wir den 200. Geburtstag unseres Hauses, wenn auch mit Verspätung“, erklärte er feierlich. Er streichelte meine Hände und fügte leise hinzu: „Und wir feiern den Tag einer Geburt, einer Wiedergeburt.“

„Du musst singen, Vater“, bat ich, „vom Vaterhaus mit der Linde und vom Elternhaus beim Mühlenrad.“ Und zu meiner Mutter sagte ich: „Bitte, backe Waffeln zum Festtag. Ich habe Hunger auf Waffeln und Kakao.“ Ich verstand nicht, warum alle weinten und warum meine Mutter mich heftig umarmte. Schon bald zog der köstliche Duft vom Waffelbacken durch das Haus, durch mein Elternhaus. Und dann klang der Gesang meines Vaters durch das Haus, durch mein Geburtshaus, durch das Haus der Lebenden.

In: Vaters Land und Mutter Erde. Eifel-Lesebuch, 1989