In russischer Kriegsgefangenschaft Teil III

Von Friedrich Jakob Schruff, bearbeitet von Sophie Lange 1995

Eine amerikanische Kommission

Es wurde Mai; Frühling in Russland. Draußen wurde es grün, Maßliebchen und Löwenzahn blühten. Der schlimme, schreckliche, kalte russische Winter mit dem großen Massensterben war zu Ende. Eine große Sehnsucht, Fernweh und Freiheitsliebe packte uns und gab uns neuen Lebensmut.

Von einer Ärztin hörten wir, dass eine große Kommission das Lazarett besichtigen und den Zustand der Gefangenen kontrollieren wolle. Alle Vorbereitungen wurden dafür getroffen. Eine amerikanische Hilfsaktion wolle sich für uns einsetzen, so wurde geredet.

Endlich kommt die langerwartete Kommission, von der die Sterbenden und die Todgeweihten ihr Heil und ihre Rettung erwarten. Sie brachte aber weiter nichts als einige gute Vorsätze, die aber gleich als undurchführbar in ein Nichts zusammenbrachen. Die Kommission war zusammengesetzt aus hohen Militärangehörigen aus Russland und Amerika. Sie gingen durch die Zimmer und die Flure, an den Betten vorbei und stellten Fragen an die Gefangenen. Wir schauten sie an mit großen leeren Augen, bittend und flehend. Wir staunten sie an wie Wesen aus einer anderen Welt, diese gut genährten, gepflegten Menschen. Diese sahen aus wie Menschen, doch wir sahen aus wie eine armselige Kreatur. Sie waren erschüttert vom Aussehen der Gefangenen. Man versprach uns, dass die Verpflegung und die ärztliche Betreuung besser werden würden. Doch das russische Versprechen war ein schlechter Trost.

Draußen wurde es wärmer, die Sonne stieg immer höher. Wir wurden bei gutem Wetter jetzt täglich eine Stunde in die warme Frühlingssonne hinausgeführt und durften auf einer Wiese die Sonne genießen. Am Ausgang des Lazaretts fesselten mich stets drei große Gemälde: Wolgafischer bei schwerer Arbeit, eine Bärenfamilie im sibirischen Urwald und eine Sippe Höhlenmenschen aus der Steinzeit. Diese Bilder erfüllten mich erst recht mit Sehnsucht nach der Freiheit und nach der Natur. Die Sonne und die frische Luft draußen taten uns gut und kräftigten uns. Ich pflückte mir jedes Mal eine Handvoll Löwenzahn und aß dann das vitaminreiche Kraut zum Brot, denn am meisten fehlten uns Gemüse und alle Vitamine. Wir litten an einer neuen Krankheit, an Skorbut. Unser Zahnfleisch war stark entzündet und blutete.

An einem schönen Junimorgen gibt es große Aufregung. Die Krankenschwestern wecken uns schon früh. Wir kriegen kaum Zeit, unsere Frühsuppe und unser Brot zu empfangen. Schon geht es dawai dawai (schnell, schnell) hinaus in den Hof. Es werden Namen aufgerufen. Die Genannten müssen zum Kleiderempfang antreten. Wir sind also transportfähig und sollen in ein Lager.

Ich bin noch sehr schwach und kann mich nur wankend auf den Beinen halten. Ich habe Angst vor einem neuen Transport, denn Transporte sind in Russland furchtbar unmenschlich. Hoffentlich dauert er nicht Tage oder Wochen in diesem unheimlich großen Land.

Wir werden zur Bahn getrieben, wo einige Waggons für uns bereit stehen. Es sind enge Wagen ohne Fenster, nur hier und da ganz oben ein kleines, vergittertes Loch. Vergittert auch die Abortecken rechts und links im Wagen. Menschenkäfige sind es, in denen man Strafgefangene oder Schwerverbrecher transportierte. In den Wagen waren vom Fußboden bis zur Decke drei Etagen, auf die wir uns hocken mussten. Dieses Hocken musste schon in kurzer Zeit große Schmerzen verursachen. Aus besonders abgetrennten Abteilen wurden wir vom Posten schwer bewacht. Wer zum Abort musste, hatte sich bei dem Posten zu melden. Ich meldete mich öfter, um mich wenigstens mal ausstrecken zu können. Das Hocken war sehr qualvoll und bereitete große Schmerzen. Zwei Tage und Nächte waren wir in diesen Folterkammern unterwegs.

In einer kleinen Stadt an der Wolga wurden wir ausgeladen und auf ein Wolgaschiff gebracht. An Bord des Schiffes waren viele Zivilisten, aber auch Militärs; Menschen in allen Trachten.

Langsam gleitet der Dampfer dahin und zerpflügt die spiegelglatte Fläche der Wolga, deren einsame, eintönige Ufer fast unmerklich weichen und vorbeigleiten. So lernten wir auch ‚Mütterchen Wolga’ kennen, Russlands größten Strom. Auf dem Schiff erklingen Lieder: Wolga, Wolga, matj rodnaja! (Wolga, Wolga, Mutter der Heimat); ein gefühlvolles russisches Lied.

Die Fahrt auf der Wolga war für uns eine interessante Abwechslung. Gegen Abend mussten wir an einer Anlegestelle das Schiff verlassen. Jetzt hieß es, elf Kilometer bis zu einem Waldlager marschieren. Mir graute davor, denn ich war noch sehr schwach. Der Weg führte zwar durch eine schöne Frühlingslandschaft, doch ich konnte kaum weiter und musste doch aushalten. Mein Herz schmerzte durch die große Anstrengung, so dass ich befürchtete, einem Herzschlag zu erliegen: Mein Freund G. aus Wien redete von einem Fluchtversuch, doch ich war kaum fähig zu gehen. Das Sprechen fiel mir immer schwerer, bis auf einmal die Sprache ganz aussetzte. Es befiel mich eine panische Furcht. Jeglicher Versuch, ein Wort über die Lippen zu bekommen, war umsonst.

Mit äußerster Anstrengung erreichten wir am Abend das Lager. Dieses war ein großes russisches Strafgefangenenlager, das nun Kriegsgefangene aufnehmen sollte. Wir waren die ersten Kriegsgefangenen hier. Nachdem man uns etwas heißes Wasser zum Trinken gereicht hatte, wurden wir in eine große Baracke getrieben. Erschöpft sanken wir auf die Pritschen, die uns zugewiesen wurden.

Am anderen Morgen wurden wir registriert und mussten baden. Das Lager bestand aus drei großen Baracken mit zwei Stockwerken, die durch und durch verwanzt waren. Die Nächte wurden durch die Wanzen zur Qual. Große Scharen von Ratten huschten durch die Räume und Aborte. Sie machten besonders die Küche und Verpflegungsräume unsicher. Nachts kletterten sie auf die Betten, sprangen über uns und quietschten.

Ich wurde schon bald wegen Skorbut und Gelenkrheuma ins Lagerlazarett eingewiesen. Die ärztliche Betreuung war gut. Eine alte russische Ärztin rettete manch einem das Leben. Sie war sehr mütterlich und besorgt. Trotzdem musste mancher sterben.

Immer neue Scharen von Gefangenen treffen ein. Sie kommen aus den Rückzugsgebieten im Donbogen und aus dem Dnjepr - Flussgebiet. Es werden Holzfällerkommandos gebildet, die täglich in die großen Wälder des Wolgagebietes ziehen. Sie erhalten bessere Verpflegung, müssen aber schwere Arbeit verrichten. Die festgesetzte Norm muss erfüllt werden.

Ende des Sommers wurde im Lager das Komitee Freies Deutschland gegründet. Der russische Kommandant hielt große Reden und forderte alle Gefangenen auf, der Bewegung beizutreten oder – sonst könnten wir in Sibirien verrecken. Ich kann mich noch nicht entschließen, der Bewegung beizutreten.

Die Tage im Lazarett sind sehr langweilig. An jedem Morgen ist Visite. Neben mir liegt ein Rumäne. Er muss an den Leisten operiert werden. Das geschieht, ohne ihn örtlich zu betäuben und ohne Narkose. Er brüllt vor Schmerzen. Im letzten Lager habe ich ein paar Mal erlebt, dass man Gefangenen ohne Narkose und ohne örtliche Betäubung die erfrorenen Füße amputierte.

Anfang Herbst wurde ich aus dem Lazarett entlassen. Zum Arbeiten war ich viel zu schwach. Ich bin mit vielen anderen dazu verurteilt, müßig im Lager dahinzudösen. Die Zeit wird zur Ewigkeit und die Sehnsucht nach der Heimat immer größer. Das Heimweh zehrt an Leib und Seele. Die Ungewissheit über die Heimat und die Lieben sowie das Bangen, ob wir die Heimat überhaupt noch einmal wiedersehen, sind so zermürbend, dass die Nervenkraft immer mehr dahinsiecht.

Das Essen wird für uns Arbeitsuntaugliche immer schlechter. Wir bekommen jeden Tag dreimal eine grässlich stinkende Fischsuppe. Nur einige erhaschen einige Fischköpfe. Die anderen müssen sich mit der fürchterlichen, grauen Brühe begnügen. Wir essen und trinken aus schmutzigen, rostigen Gefäßen, und unser Zahnfleisch ist noch immer von Skorbut zerstört und blutet. Oft habe ich schreckliche Zahnschmerzen. Wie düstere Schatten schleppen wir uns – mit zerrissenen Kleidern und barfuß – von Tag zu Tag durchs Lager. Wir hoffen und hoffen, dass der Krieg bald zu Ende sein wird. Viele Gefangene haben alle Hoffnung aufgegeben und hadern mit Gott.

Ich lernte bald einen neuen Gefangenen kennen, dem man die Bibel, das Alte und das Neue Testament gelassen hatte. Er lieh mir dieselbe zum Lesen aus. So konnte ich mich jetzt tagelang in die Bibel vertiefen und fand Trost und Frieden in den heiligen Worten. In dieser Fügung erkannte ich Gottes Liebe, Güte und Barmherzigkeit.

Mit einigen Gleichgesinnten gründeten wir jetzt im Lager eine Gebetsgemeinschaft. Sie bestand aus Angehörigen verschiedener Konfessionen. Unter ihnen war ein Kartäusermönch, Walter K. Wir beteten für die Heimat und die Lieben zu Hause, für die Beendigung des Krieges und für eine baldige Heimkehr. Jeden Tag trafen wir uns in einer Ecke des Lagers und hielten unseren Gottesdienst. Es wurde etwas aus der Bibel vorgelesen und das Vaterunser gebetet. Täglich abwechselnd sprach jeder ein Gebet seiner Konfession. Ich nahm meine Zuflucht zur Immerwährenden Hilfe und richtete an Maria mein Gebet. Obwohl wir verschiedene Bekenntnisse hatten, waren wir alle Brüder in Christi. Wir sprachen uns gegenseitig Mut und Trost zu und halfen uns in schwerer Bedrängnis.

Ein guter Freund, Kunstmaler Sepp Frieder, zeichnete mir zum Andenken an die Kriegszeit und als Trost in schweren Stunden drei Bilder. Er malte diese mit einem angespitzten Hölzchen und mit selbst hergestellter Farbe aus Erde. Ein Bild schenkte ich später einer Lettin.

Es kann sich keiner vorstellen, was es heißt, Jahre in schwerer Bedrängnis zu leben, im Angesicht des Todes, ohne Trost und mit dem Gefühl der Gottverlassenheit. Gerade daran zerbrachen die meisten Menschen. Nur derjenige, der es selbst erlebt hat, wird es ermessen können. Oft kamen Gefangene zu mir und baten um Hilfe und Trost und bewunderten mein Vertrauen und meine Hoffnung auf eine Erlösung. Andere hatten nur ein höhnisches, verächtliches Lachen. Diese hatten meist ihren inneren Halt verloren, fielen aber auch am ehesten den Seuchen zum Opfer. Meine Zuflucht war immer Maria, die Mutter der Verlassenen und Armen. Durch ihre Fürsprache, so war meine Hoffnung und meine Zuversicht, wird uns Christus helfen und erretten. Mein Vertrauen wurde reichlich belohnt.

Die Tage werden schon wieder kürzer. Draußen fällt der erste Schnee. Wir können die Baracken kaum noch verlassen und sind gezwungen, drinnen zu bleiben. Es war eine Zeit des nerventötenden Wartens. In den Baracken wurden jetzt immer mehr niederschmetternde Reden gehalten. Man will uns politisch umschulen und zu Kommunisten machen. Diejenigen Kriegsgefangenen, die dem Komitee abseits standen, sollte man mit Gewalt zum Beitritt zwingen. Ansonsten wurden sie als Faschisten gesehen und dementsprechend behandelt. Es wurde ihnen gedroht, dass sie zum Aufbau in Russland bleiben müssten und nie nach Hause kämen. Das wirkte! Fast alle erklärten ihren Beitritt.

Wir bekamen nun auch Bücher, die Werke von Marx, Engels, Lenin und andere marxistische Schriften. Ich und andere konnten uns aber nicht entschließen, Antifaschist zu werden, obschon wir das Hitlerregiment hassten und gegen den Krieg waren. Erst nach langen, schlaflosen Nächten trat ich der antifaschistischen Bewegung bei. Der Kamerad Gustav. G, den ich um Rat fragte, riet mir, es zu tun, obwohl er selber niemals beitreten würde. Die Gründe dafür verriet er nicht. Als ich meine Unterschrift gegeben hatte, bereute ich schon bald, es getan zu haben und hatte Gewissensbisse. Doch viele Aufsätze in der Lagerzeitung, verfasst von General Seydlitz und Generalfeldmarschall Paulus sowie von katholischen und evangelischen Geistlichen, beruhigten mich. Doch vieles ließ sich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Diejenigen früheren Vorgesetzten, die uns vereidigt und kommandiert hatten, traten als Erste in die Dienste der Feinde, so dass ich mich oft fragte: „Was ist Wahrheit?“

Gustav G., der es nicht über sich brachte, mit den Antifaschisten zu sympathisieren, wurde bald als Faschist gebrandmarkt. Er wurde von den Aktivisten furchtbar geschlagen und misshandelt. Er musste in einer Ecke der Baracke liegen. Keiner durfte ein Wort mit ihm sprechen. Trotz des Verbots ging ich zu ihm und sprach ihm Trost und Mut zu. Er kam schon bald mit einem Transport in ein anderes Lager.

Russland schläft im tiefsten Winter. Es ist, als ob das Land gestorben sei. Es liegt begraben unter gewaltigen Schneemassen. Es wird Weihnachten, das Fest der Liebe und der Familie. Es ist mein zweites Weihnachtsfest in Russland. Jetzt werden wir erst recht von Heimweh ergriffen. Die Waldarbeiter bringen einige Tannenbäumchen und einige Zweige mit Tannenzapfen mit. Einige Künstler basteln eine Krippe, die wir aufstellen. Am heiligen Abend singen wir gemeinsam „Stille Nacht, heilige Nacht!“ Am Weihnachtstage selbst lese ich in der Bibel von der Geburt des Herrn. Ansonsten war es ein Tag wie jeder andere. So feierten wir Weihnachten in Russland, das Herz und die Seele von Heimweh zerrissen, mit quälenden Gedanken, hungrig und frierend. Feuchte Augen starrten sehnsüchtig hinaus in die klare Sternennacht und suchten die Heimat.

Moderne Sklaven

Russische Dörfer im Winter
Russische Dörfer im Winter Russische Dörfer im Winter

Ab 1. Januar 1944 gab es eine große Umwälzung im Lager. Jeder, der sich eben auf den Beinen halten konnte, wurde zur Arbeit gezwungen. Wir erhielten Filzstiefel und wattierte Steppanzüge. Am anderen Tag mussten alle antreten. Jeweils zehn bis vierzehn Gefangene wurden vor einen schweren Pferdeschlitten gespannt. So zogen wir hinaus, ein unendlicher Zug, hinaus in die kalte, tief verschneite russische Landschaft, durch tiefe Wälder und dunkle Schluchten. Es ist sehr schwer und mühsam, sich einen Weg durch den tiefen Schnee zu bahnen, und die eisige Luft peitscht das Gesicht. So mussten wir elf und manchmal sogar 14 Kilometer den Schlitten ziehen, bis endlich das Stoj! (Halt!) der Posten erschallte. Unter großen Schneemassen wurden Holzklafter freigelegt und auf die Schlitten geladen. Nach einer kurzen Ruhepause ging es dann heimwärts. Die Kräfte reichten oft nicht, den schweren Schlitten durch die Schluchten zu bringen. Viele sanken erschöpft zu Boden in den Schnee. Die Posten stießen und schlugen wütend zu und schrieen dawai, dawai (schnell, schnell).

Müde, hungrig, durchfroren und völlig erschöpft kamen wir abends im Lager an und erhielten dann erst Brot und eine dünne Fischsuppe. So ging es den ganzen Winter, Tag für Tag, in harter schwerer Arbeit mit abgezehrtem Körper. Viele brachen zusammen, wurden niemals mehr arbeitsfähig und starben schließlich.

Am schlimmsten trieben es die deutschen Lagerführer und Barackenaufseher. Meldeten sich Gefangene krank, so trieb man sie mit Gewalt hinaus. Ich habe erlebt, dass Gefangene dann unterwegs umfielen und starben.

Wir kommen bei diesen täglichen Holztouren stets durch eine russische Ortschaft. Sie sieht armselig und elend aus, wie fast alle Dörfer in dem weiten Land. Das Leben der Menschen ist hier einfach und schlicht, ganz primitiv. Im Winter sieht man kaum einen Menschen. Die Russen halten ihren Winterschlaf. Die Männer liegen fast den ganzen Tag am Ofen und schlafen. Die Frauen führen den einfachen Haushalt und versorgen das Vieh. Das Wasser muss oft weit auf einem Schlitten herbeigeschafft werden. Eine stationäre Kraftanlage am Lager versorgt die Ortschaft mit Strom. Diese Dampfkraftanlage verschlingt unendlich viel Holz, das wir täglich heranschaffen müssen.

Ich werde bald von einem schweren Gelenkrheuma befallen und kann kein Glied mehr bewegen. Bei dieser schweren Krankheit hatte ich hohes Fieber und wurde ins Lagerlazarett eingeliefert, wurde aber schon bald wieder entlassen und war noch 14 Tage arbeitsunfähig. Ich machte während dieser Zeit Stubendienst.

Wir saßen einmal zu einigen Gefangenen um den Ofen und erzählten aus Langeweile Fronterlebnisse. Ich berichtete von meiner Tätigkeit als Soldat an der Küste von Blankenberge bei Dünkirchen. Ich war dort monatelang zu Befestigungsarbeiten abkommandiert. Ahnungslos ließ ich mich von einem deutschen Kameraden ausfragen.

Einige Tage danach sind vergangen. Ich will gerade meine Abendsuppe empfangen, da höre ich von der russischen Dolmetscherin laut meinen Namen rufen. Ich melde mich und werde von zwei Posten mit dawai dawai zur Kommandantur gebracht. Mir wurde ganz sonderbar zu Mute. Ich hatte doch nichts ausgefressen oder etwas verbrochen!

Man führt mich in einen großen Raum zum Kommissar. Es sind noch einige Offiziere anwesend. Hinter mir sind die Posten, und neben mir steht die Dolmetscherin. Der Kommissar erklärt mir, dass er über meine Gespräche im Kreise meiner Kameraden informiert sei. Er fordert mich auf, über die Befestigung der Atlantisküste, besonders über die Horchgeräte bei Dünkirchen, Aussagen und Aufzeichnungen zu machen. Also daher weht der Wind! Ein Kamerad war also ein Spion und hatte mich verraten.

Was sollte ich nun machen? Ich denke nach und bin innerlich sehr erregt. Die Aufzeichnung verweigere ich mit der Begründung: „Ich kann nicht zeichnen!“ Der Kommissar weist auf meine traurige Lage hin und betont: „Sie müssen doch an einer Invasion und damit an einer schnellen Beendigung des Krieges interessiert sein.“ Er wiederholt, was ich im Lager zu den Kameraden gesagt habe und will es aus meinem Munde bestätigt haben. Meine Aussagen sollen in dreifacher Ausführung ausgestellt werden, die ich unterschreiben soll. Dieselben sollen dann nach Amerika, England und Moskau geschickt werden. Mir wird ganz wirr im Kopf. Ich kann mich einiger Aussagen, die aber ungenau sind, nicht entziehen. Ansonsten stelle ich mich dumm, um aus dieser peinlichen Situation herauszukommen. Eine Zeichnung lehne ich förmlich ab. Daraufhin macht ein Offizier eine Zeichnung.

Der Kommissar bietet mir nun Tabak und Zigarettenpapier an. Ich lehne dankend ab. Ich kann keine Zigaretten drehen. Ich denke an die russischen Methoden und nehme mir vor, nicht willenlos zu werden. Jetzt muss mir die Dolmetscherin eine Zigarette drehen und ich werde aufgefordert, zu rauchen. Ich mache einen Zug an der Zigarette, doch dann wird mir schwindlig und ich weigere mich, weiter zu rauchen. Nun muss ich die Aufzeichnungen des Offiziers, die dieser auf meine Aussagen hin gemacht hat, unterschreiben. Dreimal muss ich meinen Namen auf ein Papier setzen.

Der Kommissar erkundigt sich nach meiner Gefangennahme und der Zeit meiner Gefangenschaft. Ich erzähle ihm genau, was sich damals zugetragen hat und dass fast alle Soldaten des Transportes, einschließlich der Offiziere, gestorben seien. Er drückt darüber sein Bedauern aus und entlässt mich.

Mein Kamerad, der Kartäusermönch Walter K., wurde mehrmals von der Kommandantur aufgefordert, einen Aufruf an das deutsche Volk und an die deutschen Truppen an der Front zu verfassen. Dieser Aufruf sollte dann in Flugblättern über deutsche Städte und über die Stellungen der Soldaten abgeworfen werden. Er sollte in dem Aufruf die deutsche Bevölkerung und die deutschen Soldaten zum Widerstand gegen Hitler auffordern und die Einstellung des sinnlosen Krieges verlangen.

Mein Kamerad geriet in große Gewissenskonflikte. Ich riet ihm, es nicht zu tun und machte ihn auf die Folgen und die Vergeltungsmaßnahmen des Hitlerregimes aufmerksam, die seine Familie und seinen Orden treffen würden. Das verlangte Schreiben sollte er als Ordensgeistlicher mit Namen und Ordensangabe unterschreiben. Er hat es dann auch nicht getan, trotz wiederholter Aufforderung.

Es wird Frühling. Die Schneeschmelze setzt ein, und die Schlittenfahrten müssen bald eingestellt werden. Doch nun wird die Arbeit erst recht schwer. Für Neubauten von Baracken für immer neue Kriegsgefangene, die in Scharen eintreffen, muss nun Langholz getragen werden. Aus tiefen Wäldern müssen wir große dicke Stämme, die wild durcheinander unter gestürzten faulen Stämmen liegen, heranschleppen. Dabei müssen je nach Dicke und Größe oftmals 20 bis 30 Mann einen Stamm anheben. Es war eine unvorstellbar schwere Arbeit, wie man sie nur von Sklavenarbeiten aus dem Altertum und dem Mittelalter kennt. Doch was sind wir anders als moderne Sklaven? Wir sind ja keine Menschen mehr! Klagten wir manchmal unser Leid, so kriegten wir gesagt: „Warum seid ihr denn nach Russland gekommen!?“

Oftmals wurden zwei solcher Langholztouren bei großen Entfernungen bis zu elf Kilometer an einem einzigen Tag gemacht. Zu zwei Mann mussten wir nebeneinander gehen und trugen auf den Schultern eine Holzrolle. Darauf wurde der riesige Stamm getragen. Oft brach eine Rolle durch. Der Stamm wurde dann den andern zu schwer und stürzte zu Boden. Dabei konnte es passieren, dass manchen Trägern die Beine zerschmettert wurden. So wurden die Arbeit und das Leben im Lager zur Qual.

Hatten die Zimmerleute im Lager eine neue Baracke errichtet, so mussten wir zur Wolga – je vier Mann mit einer Tragbahre auf der Schulter -, um Steine zu holen. Diese brauchte man für den Fußboden, der mit Steinen und Lehm gestampft wurde. Dazu wurden also schwere Sandsteine von der Wolga zehn Kilometer weit herangeschleppt. Müde wankten und stolperten wir mit ausgemergelten Gliedern, schwerbeladen mit Sandsteinen über die holprigen Straßen. Die Gefangenen stöhnten und fluchten. Es war oft nicht mit anzuhören. Bei den meisten Gefangenen versagten die Nerven und sie verfluchten Gott und ihr Schicksal. Ich biss oft die Zähne zusammen, dachte an Christus auf dem Kreuzweg und opferte ihm mein Leid und meine Qual in einem Stoßgebet und flehte um baldige Befreiung. Mein Kamerad Frieder schrieb auf die Rückseite eines Bildchen, das er mir malte: „Wer hat ärger gelitten als er!“ Das wurde mir zum Trost. Christus hatte auch schwer gelitten, unschuldig. Für die Sünden der Menschheit wurde er unter der Last des Kreuzes von den Schergen gestoßen und geschlagen. In Gedanken schrie ich zu Gott, oftmals verzagend: „Oh mein Gott, gib mir Kraft in meinem Leid, um dein würdiger Nachfolger zu sein!“

Wir waren wieder einmal bei der schweren Arbeit des Steinschleppens. Plötzlich wurden wir von einem starken Gewitter überrascht, wie sie in den großen Wäldern an der Wolga keine Seltenheit sind. Die Posten trieben uns in eine enge Schlucht und suchten sich einen Unterschlupf, während wir draußen auf freiem Wege stehen mussten. Die Blitze zuckten, der Donner krachte! Man glaubte, die Welt ging unter. Ich habe selten solche Gewitter erlebt. Der Regen goss in Strömen und verwandelte den Boden und die Wege in einen großen Morast. Durchnässt traten wir den Heimweg an. Unsere Holzschuhe blieben stecken in dem zähen Schlamm. Ich stürzte plötzlich, und die schweren Steinbrocken fielen auf mich. Mit großer Mühe, blutüberströmt und voller Schmutz, gelang es mir, wieder aufzustehen. Unsere Kolonne geriet dadurch ins Stocken. Die Posten fluchten und schimpften. Wir luden unter den Stößen der Posten unsere Steine wieder auf und wankten weiter. Eine alte Mamascha (Mütterchen) kommt gerade an unserer Kolonne vorbei. Sie bleibt stehen und schaut mitleidig zu. Als sie mich erblickt, ringt sie die Hände und murmelte etwas vor sich hin. Ich muss durch den schweren Sturz furchtbar ausgesehen haben. Sie kommt auf mich zu und greift mit Tränen in den Augen hastig in einen Korb, den sie im Arm trägt. Schnell steckt sie mir einen halben Laib Brot zu. Ich konnte ihr kaum danken. Ihre Augen schauten mich an, mitleidig, warm und gütig, die Augen einer Mutter.

Ich musste an meine Mutter denken – und an die Mutter Jesu auf dem Kreuzwege. Mir wurde es ganz warm ums Herz. So ist die russische Volksseele, mitleidig, hilfsbereit und gut. Was brutal ist in Russland, das ist das autoritäre Regime. Es macht die Menschen zu Sklaven und Tieren. Ich teilte mit meinem anderen Träger das Brot, das wir hastig und hungrig verschlangen.

Als wir im Lager ankamen, hatte ich noch ein besonderes Glück – so meinte ich wenigstens. Für die Lagerbäckerei, die im Dorf lag, wurde ein Arbeiter gesucht. Ich war einer der ältesten Gefangenen, und so wurde ich zur Bäckerei abkommandiert. Es wurde hier Tag und Nacht in zwei Schichten gearbeitet. Ich musste Holz, Wasser und Mehl herbeischleppen. Wir konnten uns zwar satt essen, aber die Arbeit war so schwer, dass ich abends todmüde auf mein Lager sank. Die Kameradschaft in der Bäckerei war sehr schlecht. Es wurde sich oftmals gezankt und geprügelt. Wohl hatte man etwas mehr Freiheit.

Ich sah oft große Herden Vieh zur Weide ziehen und musste dann an meine schöne Heimat in der Eifel denken und mit Gewalt die Tränen unterdrücken. Ich wurde immer elender und hatte wieder große Schmerzen in den Gelenken. Mit hohem Fieber wurde ich abermals ins Lazarett gebracht. Nach vier Wochen wurde ich als arbeitsfähig entlassen.

Holzflößen auf der Wolga

Holzkommando
Holzkommando Holzkommando

Im Lager wurde gerade ein Kommando zum Holzflößen auf der Wolga zusammengestellt. Diesem Kommando wurde ich zugeteilt. Nach einigen Tagen wurden wir schon in einen kleineren Ort an der Wolga gebracht. Es war eine schöne Abwechslung für uns, auf der Wolga zu flößen. Die Gegend ist hier besonders schön und interessant. Hier stehen Wälder in ernster Majestät. Das Wolgatal ist von Lieblichkeit und Frieden umfangen. Durch saftig-grüne Wiesen wälzt sich Europas größter Strom, majestätisch und gewaltig. Auf den Wiesen erblickte ich viele Blumen, die mir unbekannt waren. In den Berghängen weideten Schafe und Ziegen. Wenn der Abend kam und die Konturen der Berge verblassten, erklang ein Konzert unzähliger Nachtigallen.

Auf den Kuppen der Berge sah ich manche Ruine von Kirchen und Klöstern. Während der großen Revolution war ein grausiges Inferno über diese heiligen Stätten hinweggefegt. Das alles nahm oft meine ganze Seele gefangen und verscheuchte trübe Gedanken. An manchen Tagen packte mich jedoch das Heimweh. Dann ging ein Lied mir durch den Sinn: Es steht ein Soldat am Wolgastrand und betet für sein Vaterland.“ (richtiger Text: …hält Wache für sein Vaterland.)

Obwohl die Wolga der größte Strom Europas ist, war es fast einsam hier: Keine Eisenbahnen, keine Landstraßen und kein Autoverkehr. Die Fischerei wurde eifrig betrieben und stand in Blüte, denn die Wolga ist der fischreichste Strom Europas. Wir bekamen hier zusätzlich viel Fisch bei der Verpflegung. Ich sammelte am Ufer der Wolga Muscheln, die abends in meine Suppe wanderten und meinem Körper neue Kraft verliehen.

Wir kamen hier auch häufig mit russischen Zivilisten zusammen, denn unsere Schicht wurde von russischen Frauen und Mädchen abgelöst. Mit einigen Rubeln, die wir verdienten, konnten wir uns Milch und Zwiebeln kaufen. Besonders die Zwiebeln waren sehr begehrt.

So ging die Zeit dahin. Nach vier Wochen romantischer Arbeit wurden wir plötzlich ins Lager zurück befohlen. Es folgten wieder einige Wochen mit schwerer Waldarbeit, Holzfällen und Tragen von langen Baumstämmen, denn im Lager wurde eifrig gebaut, um immer neue Kriegsgefangene unterzubringen. Die russischen Aufseher bauten sich mit Hilfe der Deutschen schöne Holzhäuser, denn sie hatten längst beobachtet, dass diese Deutschen alles können. Sie verstehen jede Arbeit und es gelingt ihnen alles, was sie anpacken.

Der Sommer geht zu Ende. Die Russen treffen alle Vorbereitungen für den Winter. Einige Gruppen müssen auf die Felder, um die Ernte einzubringen. Die Kolchosen müssen ausgebessert werden. Ich musste mit einem Kommando an das andere Ufer der Wolga zum Holzfällen für eine Ortschaft, die einsam in großen Wäldern lag.

Wir wurden mit einem großen Floß über den Strom gesetzt und hatten anschließend einige Stunden durch die Wälder zu marschieren. In der Ortschaft empfingen uns neugierige Menschen und warfen uns Kartoffeln zu. Die Leute waren sehr gut und freundlich. Ich sah viele Tataren (Mongolen).

Wir wurden in einer kleinen Baracke untergebracht. Ich hatte hier besonderes Glück. Ein Kamerad, den ich schon länger kannte, sprach russisch und führte das Kommando. Ich durfte im Lager bleiben, musste für Ordnung sorgen und die Stube der russischen Posten sauber machen. Nach dieser Arbeit musste ich zur Volksküche, um für unsere Küche einige Kleinigkeiten zu erledigen.

Dann musste ich einem Bäcker helfen. Ich musste Holz hacken und von einem entfernten Brunnen Wasser holen. Die Russen waren sehr gut zu mir. Vom Bäcker erhielt ich genug Brot zum essen und Kartoffeln aus dem Schweinetopf. Ich wurde endlich noch einmal richtig satt und konnte meine Lagerverpflegung den Kameraden schenken. Jeden Tag wurde geputzt und gewaschen. Die Leute waren sehr sauber. Vor allen Dingen durfte ich frei umhergehen, und es herrschte hier eine nervenstärkende Ruhe.

In der Volksküche war eine Lettin aus Riga. Sie war von den Russen verschleppt worden und hatte eine große Leidensgeschichte hinter sich. Ihr Mann war erschlagen worden. Sie schenke mir jeden Tag einige Lebensmittel, die ich schon lange entbehrt hatte: Tomaten, Gurken und Zwiebeln. Ich schenkte ihr für diese Liebesgaben eine geschnitzte und bemalte Schmuckdose und ein gemaltes Bildchen von meinem Freund Sepp Frieder: Christus am Ölberge. Sie schluchzte beim Anblick dieses Bildes laut auf. Als Dank schenkte sie mir Butter, vier gekochte Eier und ein Päckchen schwarzen Tee. Diesen Reichtum konnte ich kaum fassen. Das waren alles Leckerbissen für mich. Sie versprach mir, auch weiterhin für mich zu sorgen.

Doch leider sollte diese Herrlichkeit nicht lange dauern. Nach drei Wochen wurden wir abberufen. Der Bäcker schenkte mir noch eine neue Hose. Es war für mich fast eine Ferienzeit hier gewesen. Der Abruf kam so schnell, dass ich mich von der Lettin nicht mehr verabschieden konnte, die mir so gut gewesen war.

Morgens marschierten wir ab zum Hauptlager. Die Kranken wurden von Tataren auf Panzerwagen gefahren. Wir schafften es nicht mehr bis zum Lager und mussten in einer Scheune übernachten. Die Nacht war sehr kalt. Der Herbst wollte schon seinen Einzug halten.

Am anderen Tag kamen wir im Lager an, wo inzwischen die Zahl der Gefangenen auf 2.000 Mann angestiegen war. Unter den Gefangenen hatten sich sogar zwei Brüder getroffen, und ein Vater sah seinen Sohn wieder.

Wir mussten noch einmal etliche Tage auf einer Kolchose vor dem Lager arbeiten, wo Mastschweine gezüchtet wurden. Das Futter stand in großen Kübeln vor den Schweineställen. Die Gefangenen fielen darüber her wie die Tiere.

Russe und russisches Mädchen
Russe und russisches Mädchen Russe und russisches Mädchen

Der Krieg tobte noch immer und war schon bis an die Grenzen Deutschlands getragen worden. Die Kriegsgefangenen wie auch die Russen sehnten sich nach Frieden. Die Antifa rief zum aktiven Kampf gegen Hitler und seine SS auf. Die Freiwilligen sollten in ein Aufbaulager. Hier sollten sie eingekleidet werden und russische Militärverpflegung erhalten. Sie sollten dann als selbständige Formation unter dem russischen Heer gegen die deutsche Wehrmacht kämpfen. Uns beunruhigte das alles sehr.
Man machte allerhand Versprechungen und erwartete, dass sich möglichst viele meldeten, besonders die älteren Kriegsgefangenen. Da ich mich nicht meldete, wurde ich schon bald zum Politbüro befohlen. Dort richtete man an mich die Frage, warum ich mich nicht freiwillig zum aktiven Kampfe meldete. Ich gab die kurze Antwort: „Ich lehne ab, gegen die deutsche Wehrmacht zu kämpfen, denn ein solches Tun kann ich nicht mit meinem Gewissen verantworten.“ Ferner sei ich auch nicht freiwillig gegen Russland gezogen. Unwillig entließ man mich.

Abtransport nach Sibirien

Herbst wurde es, tiefer, trauriger, hoffnungsloser Herbst, auf den der tötende Winter folgt. Es ist Oktober 1944. Aufregende Gerüchte gehen durch das Lager, von Mund zu Mund: „Der Krieg ist zu Ende! Hitler ist abgesetzt! Die Wehrmacht hat die Regierung übernommen!“ Die Kommandantur allerdings schweigt. Das ganze Lager ist in Aufregung. Es wird heftig diskutiert. Viele glauben, dass es bald nach Hause geht; andere sind misstrauisch und pessimistisch. Es werden 1.000 Mann ausgesucht und zu einem Transport zusammengestellt. Ich bin dabei. Diejenigen, die nicht dabei sind, schauen uns traurig an. Sind sie vielleicht neidisch, dass wir die Heimat als erste wiedersehen? Wir erhalten warme Winterbekleidung, dicke, wattierte Steppanzüge. Ich fand im Futter meines Steppanzugs etwa 2.000 Rubel. Sie gehörten vielleicht einmal einem russischen Verbannten und Verurteilten.

Es dauert noch einige Tage, dann ist es soweit. Wir werden zur nächsten Bahnstation getrieben, von vielen Posten und großen Hunden bewacht. Die Posten sind sehr streng und vorsichtig. Das gibt mir zu denken. Warum bewacht man uns so streng, wenn es nach Hause gehen soll? Ansonsten ist die Stimmung gut.

Nach einigen Stunden Marsch erreichten wir die Bahnstation und wurden verladen. Die Türen wurden fest geschlossen und schwer verriegelt. Mich befiel eine beklemmende Angst. Ich musste an den schrecklichen Todestransport von damals denken. Zum Glück befand sich in dem Waggon ein kleiner Bunkerofen und im Boden ein Loch für die natürlichen Bedürfnisse.

Einige Kameraden, die beim Verladen der Verpflegung eingesetzt waren, berichteten von Kisten voll Schokolade, Keks und Bonbons. Warum auf einmal diese guten Sachen, fragten wir uns. Es geht bestimmt nach Hause, so meinen wir und die Stimmung wird wieder besser – doch wir sollten bald schrecklich enttäuscht werden.

Fast zwei Drittel des Transports sollten die Heimat nie wiedersehen. Fern in Sibirien würden sie in die ewige Heimat gehen. Dort fanden sie ihre letzte Ruhestätte. Sie liegen begraben in Asiens Unendlichkeit. Russland und Sibirien sind ein grausames, menschenfressendes Tier. Das Land ist so weit und breit, dass ein Mensch darin nicht mehr zählt. Der Transport fährt ab. Was wird uns jetzt erwarten? Die Heimat? Die Freiheit? Vielleicht! Oder wieder Not und der kalte Tod?

Wir haben schon bald durch die Ritzen festgestellt, dass wir gen Osten fahren. Ein dumpfes Rollen nach einigen Stunden Fahrt jagt uns Schrecken ein. Wir fahren über eine große Brücke. Der Fluss muss also die Wolga sein. Es geht also doch nicht nach Hause. Doch wer kennt sich aus in dem gewaltigen Russland! Man versteift sich wieder in die Heimatparolen. Wir singen Heimatlieder und Weihnachtslieder, denn Weihnachten wollen wir ja zu Hause sein.

Nach einigen Tagen Fahrt erblicken wir durch Ritzen gewaltige hohe Berge. Der Ural! Das trifft uns wie ein Keulenschlag. Jetzt kommt plötzlich die große Ernüchterung. Nach Sibirien will man uns also verfrachten. Was wird uns jetzt bevorstehen? – Wieder Not und der kalte Tod? Werden wir überleben?

Nach etlichen Tagen wurden wir in einer größeren Stadt entlaust und mussten baden. Einige Gefangene hatten schon bald von Zivilisten erfahren, dass wir auf der Transsibirischen Bahn waren und immer weiter nach Osten rollten. In verschiedenen Zeitungen, die wir fanden, standen Frontberichte. Also tobte noch immer der unselige Krieg. Nach einigen Stunden ging die Fahrt weiter. Wir waren also schon über die Schwelle Europas und befanden uns auf asiatischem Boden.

Tag für Tag fahren wir tiefer in Sibiriens Einsamkeit hinein, viele Tausende Kilometer von der Heimat entfernt. Die Mutlosigkeit ist so groß geworden, dass einige Schwache in sich zusammenbrechen und bald sterben. Wieder Tage und Nächte unter Toten! Wieder Grauen und Entsetzen! Ich bete und flehe im Stillen zu Gott, das Furchtbarste abzuhalten, das schreckliche Gespenst, die Geißel Gottes in Sibirien, den Flecktyphus!

Nur Gott kann uns helfen. Und er wird helfen, wenn man nur tapfer sein Geschick trägt, unerschütterlich auf ihn hofft und vertraut. Gott sei Dank bekommen wir nun jeden Tag etwas Wasser. Es gibt Brot, Fisch und Graupen oder Reis.

Wir müssen uns das Essen auf dem kleinen Bunkerofen selbst kochen. Das dauert bei zirka 80 Menschen einen ganzen Tag, und das Wasser reicht kaum aus. Es wird alles halb roh gegessen und wir leiden wieder furchtbar unter Durst. Aber ich besitze Tabak, zwei Beutel guten russischen Markon. Dafür tausche ich jeden Tag wertvolles, gutes Trinkwasser ein. So lässt sich das schwere Leben voller Not und Entbehrungen etwas leichter ertragen.

Nach wochenlanger Fahrt sind wir endlich am Ziel. Es ist höchste Zeit. Die meisten liegen krank auf den Pritschen mit aufgedunsenem Körper, das Wasser reicht fast bis an Lunge und Herz. Wir können uns kaum auf den Beinen halten. Ich erblicke vor mir die weite, sibirische Taiga. Hier ist es schon so kalt, dass der Boden vom harten Frost überall Risse zeigt. Es muss schon länger geschneit haben, denn der Schnee ist bereits hart und fest. Kleine Ponys mit Schlitten jagen über die weite Fläche. In der Ferne erblicke ich Baracken, links davon große Erdhügel und Schornsteine. Dort entsteht ein neues Industriezentrum.

Wir müssen drei Kilometer marschieren, dann sind wir am Ziel: Ein paar große Baracken und drei große Erdhügel. Unter diesen befinden sich in der Erde Unterkünfte. Es ist feucht und kalt da drinnen. Hier werden wir vorläufig untergebracht. Jetzt beginnt eine große ärztliche Untersuchung, denn fast alle sind krank. Einige Kameraden sind schon gestorben.

Von den 1.000 Gefangenen sind nur 20 arbeitsfähig. Ich bin bei dieser kleinen Anzahl. Alle anderen kommen ins Lagerlazarett, das in den langen Baracken oberhalb der Erde ist. Vorläufig müssen wir Arbeitfähigen Lagerarbeit verrichten, Wasser für die Küche holen und Holz zum Heizen heranschaffen. Dann müssen wir Aborte auswerfen.

Traurig verlaufen die Tage, eintönig und melancholisch. Das Weihnachtsfest naht, die Zeit, in der wir zu Hause sein wollten. Weihnachten in Sibirien, in Asien, viele Tausende Kilometer von der Heimat entfernt! Dieses Mal ohne Bäumchen und ohne Lieder! Das Herz von Heimweh zernagt, zerrissen. Aber keine Tränen mehr! Meine Seele war voll von Bitterkeit über das Schicksal, das uns so weit von der Heimat hierher verschlagen hatte.

Weihnachten ist vorbei. Die Russen feiern Neujahr. Sie saufen ihren Wodka, lärmen und johlen die ganze Nacht. Wir drücken uns still die Hände, im tiefsten Leid und Schmerz, wünschen uns ein gesegnetes neues Jahr und eine glückliche Heimkehr. Die meisten sollten dieses Glück nicht haben.

Wasserholen mit einem russischen Schlitten
Wasserholen mit einem russischen Schlitten Wasserholen mit einem russischen Schlitten

Unser Kommando ist auf 50 Arbeiter gestiegen. Nun müssen wir zwei Kilometer zu einem Sägewerk zur Arbeit. Dort müssen wir Grubenholz schneiden für ein anderes Sägewerk. Es ist alles erst im Entstehen. Motoren und Maschinen stehen im Freien, Wind und Wetter ausgesetzt. Bei einem Schneegestöber gibt es oft Kurzschluss. Dann tobt der natschalnik (Aufseher), glaubt an Sabotage und droht mit harten Strafen. Die Deutschen sind strebsam und arbeitsam und haben bald für alle Motoren und Maschinen Schuppen gebaut.

I n h a l t s v e r z e i c h n i s

Teil I
Vorwort
Wo sind sie geblieben
Von Belgien zur russischen Front
In Gefangenschaft
Der Marsch ins Ungewisse
Teil II
Unmenschliche Unterkünfte
In Waggons eingepfercht
In Moskau
Massensterben im Lazerett
Teil III
Eine amerikanische Kommission
Moderne Sklaven
Holzflößen auf der Wolga
Abtransport nach Sibirien
Teil IV
Sibirische Kälte
Das Ende des Krieges
Auf der Heimfahrt