Die Nebel von Nettersheim

Eine Feengeschichte für Kinder und für alle,
die das Träumen nicht verlernt haben
von Sophie Lange

1. Der Abend vor Sommeranfang
2. Der geheime Zauber des Windhügels
3. Die Fata Morgana aus der Nebelwelt
4. Emsiges Treiben im Regenbogendorf
5. Die lange Reise in eine neue Heimat
6. Das Gold der Eifel
7. Der Untergang des alten Mutterlandes
8. Erscheinungen am Himmel
9. Der Sonnenuntergang

Der Abend vor Sonnenaufgang

Es war ein einzigartig schöner, warmer Abend, der Vorabend vor Sommerbeginn am 21. Juni. Den ganzen Tag über hatte die Sonne geschienen. Auch jetzt stand sie noch am Himmel. Sie sah jedoch merkwürdig milchig und nebelhaft aus.
Anja war mit ihren Eltern und Geschwistern zum Matronentempel Görresburg in der Nähe von Nettersheim hinaufgegangen. Die Familie wollte den Vorabend des Sommers an einem Kultplatz verbringen, an dem vielleicht schon vor Tausenden von Jahren Menschen zusammen gekommen waren, um die Sonne zu beobachten. Die Sonne erreicht an diesem Tag den höchsten Stand am Himmel, geht im Nordwesten unter und beginnt dann wieder ihren Weg zurück. Die Eltern hatten den Kindern erklärt, dass der Bau der Görresburg auf den Tag der Sommersonnenwende ausgerichtet ist und die Sonne an diesem Abend genau über der Nordwestecke der Umgangsmauer untergeht.
Anja freute sich stets auf diesen Tag, denn es war der längste Tag des Jahres und sie durfte so lange aufbleiben, wie sie wollte.
Außerhalb der Mauern der Görresburg breiteten die Eltern eine Decke aus und legten die Sachen darauf, die sie für ein Picknick mitgebracht hatten: Brötchen, Fladenbrote, Salate und Obst, dazu Saft für die Kinder und Wein für die Erwachsenen. Die Geschwister begannen gleich über die niedrigen Mauern zu balancieren, die den Kultplatz mit seinen drei kleinen Räumen eingrenzen. Die kleine Schwester hatte ihr geliebtes Stoffpüppchen im Arm, das Brüderchen trug an einer Schnur einen Luftballon, der lustig hin und her schwebte. Übermütig sangen die beiden „Auf der Mauer, auf der Lauer…“
Anja betrat den Kultplatz und blieb vor den Matronensteinen stehen. Blüten und Blätter waren wie ein Blumenteppich vor den drei Steinen ausgestreut. Das sah schön und farbenfroh aus. Oben lagen ein paar Äpfel und Birnen. In den Schoß der Matronen hatten Leute Münzen gelegt. Waren vor langer Zeit die Steine ähnlich geschmückt gewesen?
Das Mädchen betrachtete die drei göttlichen Frauen. Die jüngere Figur in der Mitte hatte langes Haar, die beiden äußeren trugen außergewöhnlich große Hauben. Mit solchen Kopfbedeckungen zeigten früher die Frauen, dass sie verheiratet waren. Alle drei hatten Körbe mit Obst auf dem Schoß. Die Matronen schauten gütig aus – wie gute Märchenfeen. Es schien fast, als ob sie lächelten.

Der geheime Zauber des Windhügels

Traumverloren ging Anja über den Platz und umrundete mehrmals die drei Räume. Dann verließ sie durch den großen Eingang die Tempelanlage. Magisch fühlte sie sich von der kleinen Anhöhe in der angrenzenden Wiese angezogen. Dieses Hügelchen ist eine geheimnisvolle Stelle und es liegt ein zarter Zauber darüber. Vielleicht stand einst hier ein mächtiger, knorriger Baum, der als heilig verehrt wurde. Aber keiner weiß es wirklich. Es ist ein Geheimnis und wird ein Geheimnis bleiben.
Anja fand es merkwürdig, dass es hier oben immer windig war, selbst wenn sich ringsum nicht das leiseste Lüftchen regte. Es war ein richtiger Windplatz, ein Windhügel. Als kleines Kind hatte sie sich vorgestellt, dass hier die Windkinder lustig spielen und herumtanzen. Doch inzwischen glaubte sie nicht mehr an Windgeister.
Auch jetzt ging hier ein sanfter Wind; er war warm und doch erfrischend. Zärtlich spielte er mit den Blättern der Sträucher, die vereinzelt am Rand des Windhügels wuchsen.
Das Mädchen schaute in das Tal der Urft hinunter. Dort waren Bahngleise zu erkennen. In diesem Moment brauste ein Zug von Trier kommend in Richtung Nettersheim. Bei einer Bahnfahrt nach Trier hatte der Vater erklärt, dass die Bahnstrecke fast den gleichen Verlauf hat wie die einstige Römerstraße zwischen Köln und Trier.
Etwas tiefer als die Bahngleise fließt die Urft. Der Name klingt so düster und unheimlich! Uuurft! Da fand Anja den ursprünglichen Namen Urdefa, den die Mutter gerne benutzte, schon etwas freundlicher. Anja liebte den kleinen Fluss. Er fließt so leicht und leise. Nur nach großen Regenfällen verstärkt er geräuschvoll sein Tempo. Dort unten ist dann auch die Steinrütsch, wo einst die römischen Legionäre ihre Straßenstation hatten.
Anja setzte sich auf die höchste Stelle des Windhügels ins Gras und zwar so, dass sie weiterhin ins Urfttal blicken konnte. Der Boden war warm von der gespeicherten Tageshitze. Doch nun kroch aus dem Tal leichter Nebel hoch. Zuerst glich er einem seidigen Schleier, der sich leicht und luftig hob und senkte, wogte und wallte. Allmählich verdichtete sich das graue Nebelgespinst zu schwebenden Schwaden, die himmelwärts zogen, der Sonne entgegen.
Anja legte sich auf den Rücken und genoss es, dass die Erde sie trug. Nach einiger Zeit drehte sie sich auf den Bauch und zwar so, dass sie auch in das andere Tal, das Schleifbachtal, blicken konnte. Sie konnte aber nicht in das Tal hinein schauen, sondern nur darüber hinweg. Dichter Nebel hatte die ganze Senkung ausgefüllt. Nur die Kuppen der angrenzenden Hügel lugten aus dem Nebelmeer hervor. Sie glichen geheimnisvollen Geisterschiffen, die auf schäumenden Wellen schaukelten.
„Ich könnte einfach über den Nebel von Höhe zu Höhe spazieren gehen“, überlegte Anja. „Es muss wunderbar sein, auf Nebel zu wandeln! Wie auf weicher Watte!“ Nun drehte sie sich so, dass sie den Matronenplatz im Blick hatte. Auch dort breiteten sich Nebelfelder aus. Die Mauern und die Weihesteine schienen weit weggerückt und waren nur noch schemenhaft zu erkennen. Die Eltern glichen verschwommenen Gestalten und die Geschwister waren gar nicht mehr zu erspähen. Nur ihr Singen und Lachen klang zu Anja herüber. Sie trällerten noch immer „Auf der Mauer, auf der Lauer…“ Ihre Stimmen waren jedoch seltsam gedämpft. Ansonsten war es still, mucksmäuschenstill. Der Nebel hatte alle Geräusche aufgesaugt.
Anja drehte sich wieder auf den Rücken, dann auf die Seite, auf den Bauch, auf die Seite, immer hin und zurück, schnell und schneller. Schließlich blieb sie erschöpft liegen. Doch in ihrem Kopf drehte sich alles weiter, der Windhügel, die Wiese, die fernen Eifelberge, der nahe Matronen-Kultplatz. Doch dann war in ihrem Kopf nur noch Nebel. Er wallte und wogte, wirbelte und kreiste, wurde dichter und dichter.

Die Fata Morgana aus der Nebelwelt

Anja starrte in diese geheimnisvolle Nebelwelt hinein. Sie wollte etwas erkennen, aber man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Auch die Sonne war verschwunden.
Doch mit einem Mal tauchte aus dem Nebel eine große Gestalt auf, wie eine Lichtgestalt. Sie schwebte über dem Boden, schwankte merkwürdig hin und her, wurde mal größer und mal kleiner. „Hallo Aufania!“ hörte das Mädchen eine feine, aber feste Stimme.
„Meinst du etwa mich?“ fragte Anja überrascht. Das Nebelgebilde nickte, wackelte wieder, schien aber dann einen festen Halt zu finden. „Ich heiße aber Anja und nicht Aufania“, sagte das Mädchen bestimmt.
„Auf-ania oder Anja, so groß ist der Unterschied ja nicht, Träumerin auf dem Windhügel.“
Woher war diese Erscheinung nur so plötzlich aufgetaucht? Anja nahm all ihren Mut zusammen und fragte: „Wieso kennst du mich? Woher kommst du? Wie heißt du?“
„Ich habe viele Namen, Anja - Aufania“, beantwortete die Nebelfrau nur die letzte Frage. „Wenn ich hier an meinem Lieblingsfluss, der murmelnden Urdefa, herumspuke, sagen die Leute: Die weiße Juffer ist unterwegs.“ Die Nebelfrau kicherte und auch Anja musste lachen. Sie hatte schon von der rätselhaften Jungfrau gehört, die sich in den Wellen des Flusses spiegelt und ihr langes Haar kämmt. Man darf die schöne Dame nicht stören, sonst wird sie böse. Aber das ist doch nur eine Sage. Ein Märchen!
„Wie heißt du denn wirklich?“ ließ Anja nicht locker. Es war einen Moment still, dann sagte die Nebelfrau: „Mein bekanntester Name ist Fata Morgana.“ Bei diesen Worten verschwand das Bild, schien sich aufzulösen, tauchte dann wieder aus den Tiefen des Nebelmeers auf, schwebte hin und her und verfestigte sich schließlich zu einer übergroßen, königlichen Gestalt.
„Fata Morgana?“ fragte Anja verdutzt. „Das ist doch kein Name, sondern eine Erscheinung, eine Luftspiegelung in der Wüste oder so etwas. Man sieht Dinge, die gar nicht vorhanden sind.“
„Ich heiße Fata Morgana“, bekräftigte die Nebelfrau. „Fata bedeutet in deiner Muttersprache Fee. Und die Luftspiegelung, die du meinst, ist nach mir benannt. Ich kann nämlich Unsichtbares sichtbar machen und längst Vergangenes in die Gegenwart holen – wenn auch nur für kurze Augenblicke.“ Sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort: „Morgana ist der Name, den ich auf der Insel Avalon trage. Noch nie etwas von der verwunschenen Apfelinsel gehört, kluge Menschenfee?“
Anja überlegte. Zu Hause hatten sie ein dickes Buch mit dem Titel Die Nebel von Avalon. Immer wieder las die Mutter darin. Manchmal erzählte sie den Kindern etwas daraus, von der Hohen Priesterin Morgana und ihrem Halbbruder, dem König Artus. Avalon, die märchenhafte Insel im fernen Großbritannien war also die Heimat der Fata Morgana. Aber war die geheimnisvolle Nebelinsel nicht längst untergegangen? Auf jeden Fall war sie weit weg. Wie kam die Nebelerscheinung hierher?
Avalon ist überall“, sagte die Nebelfee in Anjas Gedanken hinein, „denn Avalon ist das Mutterland aller guten Menschen. Auch hier im Land der aufanischen Matronen ist Avalon. Und überall im Mutterland der alten Zeit erscheine ich - wenn wissbegierige Matronenmädchen mich rufen.“
„Ich habe dich nicht gerufen“, sagte Anja und bemühte sich um eine feste Stimme.
Die Fee ließ wieder ihr Kichern hören. „In deinen Träumen hast du ein Paradies herbeigesehnt“, sagte sie leise, „und diese Sehnsucht hat mich zu dir geführt, du Traumkind des alten Mutterlandes.“ Anja konnte es nicht fassen. Woher wusste diese merkwürdige Erscheinung von ihren geheimen Träumen? Von ihrer Sehnsucht nach einem traumhaft schönen Land, wo jeden Tag die Sonne scheint und wo alle Menschen Tag für Tag fröhlich und freundlich sind? War das alte Mutterland das Paradies, von dem sie träumte?
Anja versuchte, die Fee besser zu erkennen. Zunächst war sie ganz dunkel gewesen, doch dann war sie allmählich heller geworden. Bekleidet war sie mit einem weiten, leinenen Gewand, das auf der Brust mit einer Art Brosche zusammengehalten wurde. Fibel nannte man wohl diese kunstvolle Gewandspange. Um den Hals trug sie eine Kette mit einem Mondanhänger. Eine Art Diadem schmückte ihre Stirn. Die Gestalt hatte langes, wallendes Haar, genau so wie die mittlere Göttin auf den Matronensteinen. Das Gesicht war undeutlich, aber Anja konnte erkennen, dass es jung und hübsch war. Doch plötzlich änderte sich das Aussehen, die Gesichtszüge wurden älter, das helle Gewand wurde leuchtend rot und das Haar war unter einer großen Haube verschwunden. Dann wandelte sich das Gesicht wieder und wurde noch um einige Jahre älter. Die Kleidung war nun dunkel.
„Du kannst ja zaubern“, sagte Anja beeindruckt. „Echt stark! Bist du vielleicht gar keine gute Fee sondern eine böse Hexe, Fata Morgana? Oder doch eine übermächtige Göttin?“
„Du stellst viele Fragen, Juffer Naseweis“, sagte die Fee lächelnd und ihr Gesicht verwandelte sich wieder in das Gesicht eines jungen Mädchens. „Meine Ahnin ist die große Göttin Morgain. Doch ich selbst bin keine Göttin. Einst war ich eine Hohe Priesterin und die Stimme der Großen Göttin.Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: „Jetzt lebe ich im Land der Feen. Ob ich gut oder böse bin, das musst du selbst herausfinden, Anja - Aufania.“
Sie ist eine gute Fee! Da war Anja sich jetzt ganz sicher. Aber wie alt mochte sie sein? Die Fee schien auch diese Gedanken erkannt zu haben. „Ich bin dreimal drei Jahre alt“, erklang ihre feine Stimme.
„Genau wie ich“, freute Anja sich, „denn ich bin neun Jahre.“ Doch jetzt änderte sich wieder das Aussehen der Fee. „Wir beide sind gleichaltrig, Anja, - und du bist meine liebste Schwester“, flüsterte die Nebelfee, „aber zugleich bin ich deine Mutter - und du bist meine allerliebste Tochter. Aber ich bin auch deine Großmutter und Patin - und du bist meine herzallerliebste Enkel- und Patentochter. Ich bin jede der Frauen einzeln und gleichzeitig alle zusammen.“ Anja schüttelte den Kopf. So etwas gibt es doch gar nicht! „Im Feenland ist alles möglich, alles, was unmöglich scheint, du Besucherin aus einer anderen Welt“, hörte Anja nun wieder die Stimme, die immer leiser wurde und zum Schluss nur noch ein Hauchen war. Die geheimnisvolle Gestalt war im dichten Nebel verschwunden.

Emsiges Treiben im Regenbogendorf

Anja riss die Augen auf, sah sich suchend um, drehte sich nach allen Seiten, hin und her, her und hin. Wo war denn die Fee geblieben? Rundum war nur Nebel, dichter, undurchdringlicher Nebel. Kein einziger Sonnenstrahl war mehr zu sehen. Anja schloss schnell wieder die Augen und im gleichen Augenblick riss die Nebelwand auf. Blitzartig tauchte ganz in der Nähe eine Siedlung auf. Wie eine Fata Morgana! Langsam verschwand auch der letzte Rest des Nebels. Ein farbenprächtiger Regenbogen spannte sich über das Land. Wie ein riesiges Dach wölbte er sich über die Hütten.
Die kleinen Häuser waren aus Holz und Lehm gebaut und die tief heruntergezogenen Dächer mit Stroh, Schilf oder Baumrinde gedeckt. Erst nach genauem Hinsehen konnte Anja winzige, fensterähnliche Öffnungen und einen Eingang entdecken.
Sie versuchte in eine der Hütten hineinzusehen, doch im gleichen Augenblick war das Dorf verschwunden. „Schade!“ dachte Anja traurig. Doch dann hörte sie die vertraute Stimme: „Sei nicht betrübt, kleine Träumerin. Bei einer Fata Morgana versinkt alles sekundenschnell in Nichts, doch es taucht genauso unerwartet aus den Nebeln der Vergangenheit wieder auf. Du musst nur Augen und Sinne offen halten und schon wird das Dorf für dich wieder sichtbar.“
Anja dachte noch über diese Worte nach, als das Dorf erneut aus dem Nebel hervorwuchs. Doch jetzt war es belebt und viele Menschen waren zu erkennen. An einer Stelle waren Männer dabei, eine Hütte zu bauen. Sie waren bekleidet mit langen, weiten Hosen und bunten, ärmellosen Hemden. Eifrig schleppten sie Holz herbei, verbanden Äste miteinander und verschnürten große Holzbalken. Kein einziger Nagel wurde eingeschlagen. Wie geräuschlos es auf der Baustelle zuging! Nur das Spalten des Holzes verursachte ab und zu einen knarrenden Laut.
Lärm machten jedoch einige Kinder, die sich an der Baustelle herumtrieben. Sie riefen sich irgendetwas zu und lachten lauthals. Die Kleinen balancierten über Baumstämme, die dort lagen. Sie sangen ein Lied dabei, das sehr lustig klang. Immer wieder schubsten sie sich gegenseitig von den Stämmen hinunter, purzelten durch das Gras und ließen sich einen kleinen Hang abwärts rollen. Schnell und immer schneller.
Größere Jungen warfen mit herumliegenden Lehmklumpen. Sie schienen eine Art Wettwerfen zu veranstalten.
An einer anderen Stelle prügelten sich einige Jugendliche. Ihre Blicke waren wild, ihre Gesichter verzerrt und ihre Schreie fast unmenschlich. Sie schlugen so verbissen aufeinander los, als ob es um Leben oder Tod ging. Ein struppiger Hund umsprang kläffend die Kämpfer. Am auffallendsten war bei den Jugendlichen die Haartracht. Wild standen die blond-gebleichten Haare vom Kopf ab. „Die sehen ja wie Waldteufel aus“, stellte Anja amüsiert fest.
Zwischen den Hütten durchwühlten Schweine grunzend die Erde; Federvieh scharrte hungrig den Boden auf. Etwas abseits grasten friedlich einige Schafe und Ziegen in Gehegen. Besonders auffällig waren kleine, wendige Pferde, die auf einer Koppel galoppierten. Eine Kuh weidete auf einer Grasfläche und kaute gemächlich. Apfel- und Birnbäume standen in der Nähe der Häuser. Die Früchte waren winzig.
Mitten im Regenbogendorf loderte auf einem freien Platz ein Feuer. Mehrere Frauen hantierten dort. Bekleidet waren sie mit langen, bunten Gewändern, die mit einem Gürtel in der Taille zusammengefasst waren. Karos und Streifen schienen modern zu sein. Die Frauen bereiteten wohl das Essen vor. Plötzlich sprangen sie auf und gestikulierten wild mit den Händen in der Luft. Nun erblickte Anja, was die Frauen so erfreute. Zwei Männer kamen näher. Neben Pfeil und Bogen trugen beide über der Schulter einen Stock, an dem erlegte Feldhasen baumelten. Die Frauen liefen den Männern entgegen und es wurde aufgeregt durcheinander geredet. Die Worte klangen rau und kehlig, fast wie das Eifeler Dialekt. Die Männer legten die Beute am Feuer nieder. Mit scharfkantigen Hölzern und spitzen Messern wurde den Tieren zu Leibe gerückt. Schnell wandte Anja den Blick ab. Das wollte sie nun wirklich nicht sehen.
Vor einem Haus waren Frauen und größere Mädchen dabei, Ton zu schlagen, zu kneten und zu rollen, um Töpferwaren herzustellen. Etwas abseits standen bereits fertige Schalen und Töpfe sowie kleine Figuren, die wie niedliche Matrönchen aussahen.
Außerhalb der Siedlung konnte Anja kleine Felder mit Getreide erkennen: Weizen, Gerste, Hirse, Ackerbohnen und Linsen. An einem Bachufer entdeckte sie eine Frau in einem roten Gewand, die Kräuter sammelte. Wie sorgsam sie mit jedem Pflänzchen umging! Sie kniete sich davor nieder, sprach einige Worte und erst dann brach sie den Stängel ab. Mit einer tiefen Verbeugung bedankte sie sich bei der Erde und der Pflanze. Dann ging sie zu Sträuchern, um einige Beeren zu pflücken.
Ein Mädchen – weiß gekleidet wie eine Juffer - ging mit einer Kanne bergab, um an der Quelle Wasser zu schöpfen. Auf dem Weg dorthin kam sie an drei großen Felsensteinen vorbei, die wohl zu einem heiligen Platz gehörten. Sie verweilte kurz dort und legte eine Blume nieder. Anja hob den Blick. Die Sonne stand tief am nordwestlichen Himmel, im Osten war der bleiche Mond aufgegangen. Es war Vollmond. Noch immer überspannte der farbenprächtige Regenbogen das Dorf. Während die eine Spitze sich im fernen Wald verlor, berührte das andere Ende eine einzeln stehende Buche auf einer kleinen Anhöhe. Dicke Wurzelarme liefen über der Erde, bevor sie ins Erdreich mündeten. Die Äste bildeten seltsame Formen und die Zweige vereinigten sich zu einem tief herunterhängenden, schützenden Blätterdach. Viele Menschen - Erwachsene und Kinder - waren hier versammelt. Mitten unter ihnen saß eine Frau, die wohl etwas erklärte, denn alle Blicke waren auf sie gerichtet. „Das ist ja die Fata Morgana“, erkannte Anja erfreut und ob sie es wollte oder nicht, befand sie sich plötzlich mitten unter den anderen Menschen. Die Fee begrüßte sie mit einem Lächeln. Aber als Anja etwas sagen wollte, stieß ein kleines Mädchen sie an: „Psst, die Geschichtenerzählerin will uns über die alte Heimat unseres Volkes berichten. Da müssen alle aufmerksam zuhören.“

Die lange Reise in eine neue Heimat

Mit leiser Stimme begann die Fata Morgana ihre Erzählung: „Vor langer, langer Zeit lebten eure Vorfahren in einem fernen Land. Dort, wo jeden Morgen die Sonne am frühesten aufgeht, hatten sie ihre Heimat. Sie lebten bescheiden von den Gaben, die ihnen die Mutter Natur bescherte. Doch sie waren damit zufrieden und versäumten es nie, für die guten Gaben zu danken.
Die ganze Natur schien ihnen von übernatürlichen Wesen beseelt. Es waren meist gutmütige Geister, die sich überall eingenistet hatten. Aber auch bösartige Dämonen trieben ihr Unwesen. Diese unsichtbaren Feinde schickten lange Dürrezeiten oder verheerende Unwetter und zerstörten immer wieder ihrer Hände Arbeit. Die Menschen gaben sich große Mühe, diese zerstörerischen Naturgewalten zu besänftigen, murmelten beschwörende Gebete und brachten Opfergaben. Das konnten Früchte aus der Natur sein, aber auch persönliche Dinge wie Schmuck.
Mit der Zeit wurden die Naturkatastrophen immer schrecklicher. Es wurde so eisig kalt, dass die Früchte der Erde nicht mehr reifen konnten. Die Menschen litten großen Hunger. Es gab nur noch einen Ausweg. Sie mussten ihr Land verlassen und sich eine neue Heimat suchen. So entschlossen sie sich eines Tages, mit ihren Habseligkeiten aufzubrechen und mit Pferd und Wagen in Richtung Sonnenuntergang zu ziehen. Es wurde eine lange Reise.
Wo es Nahrung gab, ließen sie sich auf ihrer Wanderschaft nieder, manchmal für die Weile, in welcher der Mond erstarb und wieder rund wurde, manchmal für die Zeit, in der die Sonne ihren ganzen Weg am Himmel vollzog. In den Wintermonaten suchten sie Unterschlupf in geschützten Höhlen. Doch immer wieder trieben Hunger und Kälte sie weiter. Nicht selten gerieten sie in Streit mit Stämmen, deren Land sie durchquerten. Es waren erbitterte Kämpfe, getrieben von der Angst ums Überleben.
Um sich besser ernähren zu können, hatte sich das Volk, das später die Kelten oder Gallier genannt wurde, aufgeteilt. Die einzelnen Gruppen zogen in alle vier Himmelsrichtungen.
Eine dieser Gruppen kam in die Gegend von Rhein und Eifel. Die Menschen nannten sich Eburonen, womit sie ihre Verbundenheit zu den Eiben deutlich machen wollten. Die weisen Frauen verstanden es, mit dem stark verdünnten Gift dieses Baumes Krankheiten zu heilen. Die Männer vergifteten mit Eibensud ihre Pfeile, die damit zu tödlichen Waffen wurden.
Eine Sippe der Eburonen erreichte genau diese Stelle, wo ihr jetzt lebt. Die sanft abgerundeten Hügelketten, die geschützten Täler und die klaren Bäche erinnerten sie an ihre alte Heimat. In den Wäldern lebten zahlreiche Tiere und in den Tälern wuchsen viele essbare Pflanzen und heilkräftige Kräuter. Besonders gefiel ihnen jedoch ein Plateau mit drei großen eindrucksvollen Felsensteinen. In der Nähe stand auf einer kleinen Anhöhe eine hohe, uralte Buche, deren Zweige zu einem schützenden Dach gewachsen waren. Etwas weiter begann ein dunkler Wald. Am Fuße des Plateaus sprudelte eine klare Quelle, die einen kleinen Bach speiste. Die Eburonen erkannten, dass hier ein goldenes, gesegnetes Land war und beschlossen, nicht mehr weiterzuziehen. Sie bauten Hütten, verehrten an dem heiligen Platz ihre Göttinnen und Götter und lebten glücklich und zufrieden.“

Das Gold der Eifel

Anja hatte schweigend und mit offenem Mund zugehört. Doch jetzt konnte sie nicht mehr still sein. „Haben die Eburonen in den Eifelbächen auch Gold gefunden“, fragte sie aufgeregt. „Das habe ich mal gehört. Die Kelten liebten Schmuck und dafür brauchten sie Gold.“
„Hier wächst doch das Gold massenhaft an den Hängen“, sagte die Fata Morgana und schmunzelte. „Sagt ihr nicht „Eifelgold“ zu dem gelb leuchtenden Ginster?“ „Eifelgold! Eifelgold!“ echoten die Zuhörer und lachten übermütig.
Doch Anja fand das ganz und gar nicht lustig. „Ich meine das Edelmetall, das echte Gold“, sagte sie mit Nachdruck. „Gab es hier nun Gold oder nicht?“
„Unsere Besucherin aus der Zukunft will wohl alles ganz genau wissen“, sagte die Fee nun ernst. „Aber bedenke, neunmalkluges Eifelkind, die Kelten gaben ihre Geheimnisse nicht preis. Was ein Geheimnis ist, muss ein Geheimnis bleiben. So haben sie nie etwas aufgeschrieben.“
Wahrscheinlich konnten sie gar nicht schreiben, dachte Anja verächtlich. Aber natürlich fing die Fee diesen Gedanken gleich auf. „Sie konnten, kleine Besserwisserin, sie konnten“, sagte sie mit fester Stimme. „Trotzdem haben sie ihr umfangreiches Wissen mündlich weitergegeben, denn es sollte nicht an Fremde und Unwürdige geraten.“ Die kann mir viel erzählen, dachte Anja grimmig. Die Fee schaute das Mädchen durchdringend an: „Wenn Menschen in ferner Zukunft mit dieser mündlichen Überlieferung ein Problem haben, so ist das ihr Problem, Fräulein Ich-will-es-genau-wissen.“
Anja schnaufte. „Woher hatten sie nun das Gold für ihren Schmuck und für ihre Regenbogenschüsselchen?“ blieb sie hartnäckig. „Für was?“ fragte Morgana erstaunt. „Regenbogenschüsselchen!“ wiederholte Anja. „So nennen wir keltische Goldmünzen, die wie winzige Schüsseln aussehen. Dort, wo ein Regenbogen die Erde berührt, kann man sie finden.“ „Regenbogenschüsselchen“, begeisterte die Fee sich für dieses Wort. „So ganz fantasielos scheinen die Menschen deiner Zeit doch nicht zu sein.“ Erst nach einer Weile sprach sie weiter: „Wisse, meine Tochter: Die Feen haben der Menschheit ein kostbares Geschenk gemacht: Die Fantasie. Mit Fantasie kannst du manches Rätsel lösen und dich manchem Geheimnis nähern!“ Es war einige Atemzüge lang still. Dann erklang die Stimme der Fee wie aus weiter Ferne: „Fantasie und Wunschträume sind echtes Gold wert!“ Dann war die Erscheinung verschwunden und mit ihr das Regenbogendorf, die Häuser, die Landschaft, die Menschen.

Der Untergang des alten Mutterlandes

Anja riss die Augen auf. Wo war sie? Sie schaute sich um. Ringsum war dichter Nebel. Sie fühlte sich eingeschlossen von dieser Nebelwolke und doch schützend umgeben - wie eine Insel im großen Nebelmeer. Was war mit ihr geschehen? Es war ihr, als ob die Zeit in Riesenschritten an ihr vorbeigezogen wäre. Andererseits schien die Zeit still zu stehen, eingefangen in einen einzigen Augenblick. Es war merkwürdig still. Doch dann hörte Anja helle Kinderstimmen: „Auf der Mauer, auf der Lauer.“ Sie atmete erleichtert auf. Nun wusste sie wieder, wo sie war.
Anja starrte in den Nebel. Und wieder nahm die Traumwelt von ihr Besitz und führte sie in das friedliche Keltenland. Obwohl die Szene nur einige Sekunden lang wie eine Fata Morgana auftauchte, erkannte Anja alles so genau, als wenn eine Handlung in Zeitlupe ablief. In dieser Erscheinung stand die Fata Morgana wie eine göttliche Lichtgestalt auf einer Anhöhe, die Arme segnend erhoben. An hohen, seltsamen Steinen legten Frauen in keltischer Tracht Früchte nieder. Sie trugen wertvollen Schmuck, der wie Gold in der untergehenden Sonne funkelte. Festlich mit Blumen geschmückte Mädchen tanzten etwas abseits um einen Weihestein. Dabei schwangen sie bunte Tücher.
Priesterinnen mit Krügen traten näher. Sie hatten Wasser aus der heiligen Quelle geholt und besprengten damit die Menschen und die Erde. Sie sangen eigenartige Lieder, volltönend und beschwörend. Trommelschläge dröhnten aus der Tiefe der Erde. Hohe, zarte Harfenklänge strebten himmelwärts.
Doch blitzartig wurde das friedliche Bild gestört. Lärmend stürmten römische Soldatenheere ins Land, zerstörten alles, was ihnen im Wege stand, brannten die Häuser nieder, zertraten die Felder, verjagten die Tiere. Die keltischen Männer, Frauen und Kinder kämpften verbissen um ihr Leben und ihr Land. Doch die Übermacht der Gegner war zu groß. Wehklagend flohen die Besiegten in die dunklen Wälder. Eine lähmende Traurigkeit senkte sich über das Land.
Anja war vor Schrecken wie gelähmt. „Warum hilft denn niemand den Menschen?“ dachte sie erschüttert. Und wo war die gute Fee? Sie war vielleicht die einzige, die das Land und seine Bewohner retten konnte. „Fata Morgana! Fata Morgana!“ schrie Anja voller Verzweiflung. „Wo bist du? Warum beschützt du nicht dein heiß geliebtes Mutterland?“ Doch die Fee blieb verschwunden. Anja wurde von einer tiefen Niedergeschlagenheit ergriffen. „Morgana!“ sagte sie mit tränenerstickter Stimme. „Rette dein Mutterland, sonst ist es für alle Zeiten verloren.“
Erst nach einiger Zeit hörte Anja in weiter Ferne eine Stimme. Sie erdröhnte übermächtig und doch war es die vertraute Stimme der Fee Morgana: „Ein Mutterland kann niemals untergehen! Es wird neu auferstehen, aufleben, immer wieder, zu allen Zeiten. Glaube fest daran, Anja!“ Und wie ein Echo klang es aus weiter Ferne: „Anjaaa, Anjaaa, Anjaaa!“
Anja fühlte sich etwas getröstet und doch war sie traurig. Ach, wenn die Fee doch immer bei ihr bleiben könnte! Wie eine gute Freundin! „Ich wünsche es mir von ganzem Herzen“, flüsterte Anja. Da war die lichte Gestalt ganz nahe bei ihr. „Immer kann ich nicht bei dir sein“, sagte sie mit sanfter Stimme, „aber wenn du mich in deinen Träumen rufst oder mich herbeiwünschst, werde ich zu dir kommen, meine Traumgefährtin.“
Anja spürte, wie ihr die Fee die Hand auf den Kopf legte, ganz sanft. „Mein Segen ist immer mit dir“, sagte sie und murmelte einige fremdartige Worte. Erst nach einiger Zeit fuhr sie fort: „Du wirst dich dein ganzes Leben lang an alles erinnern, was du gesehen und gehört hast, kleines Matronenmädchen. Und du wirst die Geschichten der alten Zeit allen weitererzählen. Du wirst eine gute Geschichtenerzählerin werden, meine herzallerliebste Freundin.“ Dann löste sie sich endgültig im Nebel auf.

Erscheinungen am Himmel

Die letzten Worte der Fee Morgana waren kaum verklungen, als Anja wieder die zarten Harfenklänge und die dumpfen Trommelschläge hörte. Sie kamen tief aus der Erde und vermischten sich mit einem leichten Südwind, der ein lustiges Spiel mit Sträuchern und Bäumen spielte. Wie eine übermütige Windhexe tanzte die Brise über den Windhügel.
Doch schon eilt der Wind weiter, läuft durch die Getreidefelder, sodass die Ähren wellenartig wallen und wogen. Schließlich nähert er sich einer großen Wiese, auf der abgemähtes Heu liegt. Mit einem lauten „Huiii!“ wirbelt er das Heu durcheinander, ergreift die Halme und wirft sie hoch in die Luft. Wie lustige Heuhexen tanzen sie, lachen und juchzen: Huii! Huii!
Doch urplötzlich nähert sich ein kalter, heftiger Nordwind. Das ist keine lustige Windhexe mehr, sondern ein ungestümer Sturmgeselle. Er fährt zwischen die tanzenden Halme, wirbelt sie hin und her, peitscht sie in die Höhe und treibt sie auseinander in alle vier Winde. Kraftlos sinken die kleinen Heuhexen zu Boden. Das Spiel ist aus, der Tanz vorbei. Die wilde Jagd hat begonnen. Doch die Sonne steht weiterhin am Himmel.
Der Nordwind jagt weiter über die Wiese, stürmt das Tal hinab, die Hügel hinauf, durchwühlt die Getreidefelder, knickt die Halme, reißt Äste von den Bäumen, zerstört alles, was ihm im Wege steht. Es blitzt, es donnert. Ängstlich verkriechen sich die Tiere im Wald, erschreckt eilen die Menschen nach Hause. Der Sturm wird stärker und stärker, stürmt wie ein lärmendes Soldatenheer übers Land, tobt und tost. Es ist ein Heidenspektakel! Anja hielt sich die Ohren zu.
Doch so plötzlich wie der Heidenlärm begonnen hatte, so jäh brach er ab. Ein greller Blitz, ein letzter gewaltiger Donnerschlag – dann war es still, unheimlich still.
Anja öffnete die Augen, richtete sich auf und schaute sich erstaunt um. Wo war sie? Ganz allmählich fand sie in die Gegenwart zurück. Heute war doch der Abend vor Sommeranfang! Aber die Fata Morgana, die gute Fee, das Regenbogendorf, der Untergang des Mutterlandes, der Sturm - hatte sie das alles nur geträumt? Aber es war doch alles so lebendig und echt gewesen! Konnte etwas Wirklichkeit und gleichzeitig ein Traum sein? Konnte ein Traum Wirklichkeit sein?
Anja sah hinüber zu dem Kultplatz. Es waren noch mehr Menschen gekommen, vor allem Frauen und Kinder. Die Geschwister liefen nicht mehr auf der Mauer, sondern schauten zu, wie einige größere Jungen miteinander kämpften. Wahrscheinlich spielten sie Gallier gegen Römer, Asterix und Obelix gegen Caesar und den Rest der römischen Welt. Sie schrieen laut bei ihrem Kampf und machten so verbissene Gesichter, als ob es um Leben oder Tod ging. Ein struppiger Hund umsprang kläffend die Kämpfer.
Die Erwachsenen standen in kleinen Gruppen zusammen, redeten miteinander, aßen und tranken. Leichte Dunstwellen durchzogen den Platz, doch ein richtiger Nebel war es nicht mehr. Die Täler waren jedoch noch immer unter einer dichten Nebeldecke verborgen. Von der Sonne war nichts zu sehen.
Die Matronensteine lagen jetzt im Dämmerlicht. Einige Kerzen waren dort angezündet, die wie Irrlichter flackerten und flimmerten. Wie Feuerzungen kletterte der Kerzenschein an den Matronensteinen empor.
Anja stand auf, reckte und streckte sich. Sie spürte den Wind in ihrem Gesicht. Er hatte sich verstärkt und trieb ein lustiges Spiel mit den Sträuchern.

Als Anja über das Urfttal blickte, sah sie plötzlich etwas Riesiges aus dem Nebel aufsteigen, wie eine Erscheinung. Es schwebte auf den Nebelwellen, wackelte hin und her, verfestigte sich allmählich, stieg höher und höher. „Fata Morgana!“ durchzuckte es Anja. Doch dann erkannte sie, was diese „Erscheinung“ wirklich war: Ein Heißluftballon, wie sie ihn schon öfters von hier oben beobachtet hatte. Er war leuchtend bunt und stach auffällig von dem grauen Einerlei des Nebels ab. Jetzt hatten auch die Kinder auf dem Kultplatz den Ballon entdeckt. Eilig kamen sie auf den Windhügel gerannt und bestaunten das riesige Gefährt.
Nach einer Weile setzte Anja sich ins Gras. „Kommt zu mir“, forderte sie die anderen Kinder auf. „Ich möchte euch eine Geschichte erzählen.“ Und mit fester Stimme begann sie: „Vor langer, langer Zeit lebten unsere Vorfahren in einem fernen Land.“ Nun berichtete das Mädchen alles, was sie von der Fata Morgana erfahren und in ihrem Traum erlebt hatte. Aufmerksam hörten die Kinder zu.
„Und irgendwann wird das alte Mutterland der Fee Morgana wieder aus den Nebeln auftauchen und alle Menschen werden fröhlich und glücklich sein“, schloss Anja ihre Erzählung.

Der Sonnenuntergang

Gerade in diesem Augenblick rissen die Nebelschleier auf und die Sonne stand wie ein riesiger Feuerball tief am nordwestlichen Himmel. Sie flimmerte und funkelte, glitzerte und glühte, sprühte Funken. Tausend und abertausend kleine Feuergeister schienen dort umher zu tanzen.
Das Land war in ein tiefrotes Licht getaucht. Im Osten war der bleiche Mond aufgegangen. Es war Vollmond.
Eilig kamen auch die Erwachsenen auf den Windhügel. Alle gemeinsam beobachteten nun, wie die Sonne langsam aber beständig tiefer und tiefer sank. Immer mehr näherte sie sich der Erde, bis sie schließlich verschwunden war, untergetaucht hinter den fernen Hügelketten. Dämmerung fiel über das Land. Es wurde merklich dunkler und auch kühler.
Doch das konnte Anja nicht betrüben. Denn sie wusste, morgen in aller Frühe wird die Sonne wieder aufgehen und den Menschen einen neuen wunderbaren Sommertag bescheren. Und irgendwann erscheint auch wieder ihre Freundin aus dem Feenland. Groß und königlich wird die Fata Morgana hervor schreiten aus den Nebeln von Nettersheim.